Wednesday, January 20, 2010

Der Lok Magier



Rolf-Peter Wille

I.

“Husch, husch, husch” machte die Lokomotive und Knut thronte auf seinem Töpfchen. “Husch”, sagte Knut, “husch, husch” und machte in sein Töpfchen. Alles konnte er sehen von seinem Töpfchen auf dem Klapptisch. Riesige Gasometer wuchsen, Pilzen gleich, aus dem Boden und schwollen am Firmament zu bedrohlichen schwarzen Flecken an. Ging ihnen die Luft aus, so schrumpften sie wieder in den Horizont hinein; und zurück blieben nur die mageren Stahlgerüste.
Auch die Lokomotive unter dem Fenster atmete ein und aus. Zwar schwoll ihr Schornstein nicht an, aber wenn dieses Nashorn wütend wurde, zischte der Dampf nicht nur aus den Nasenlöchern sondern auch aus dem Rumpf. Dann machte die Lokomotive nicht mehr “husch” sondern kreischte so wild, dass man sich die Ohren zuhalten musste.
Auch die runde Mama von Knut konnte, wenn sie wütend war, so kreischen, aber meist tat sie es nicht. Meist, wenn er auf seinem Töpfchen thronte, nahm sie die knutischen Ärmchen und dirigierte damit die Lokomotive. Alleine dirigierte er auch die Gasometer, die Autos auf der Straße…, aber das wusste seine Mama nicht.

Viel später, in der zweiten Klasse dann, malte Knut ein gewaltiges Nashorn an die Tafel. Aber es hatte Schornsteine und der Dampf stieg daraus empor. Schon fingen die Kinder zu kichern an und fast ins Gespött seiner Freunde hätte er sich gemalt, wenn Knut nicht intuitiv der Name “Nasomotive” eingeblitzt wäre. “Das ist eine Nasomotive.” sagte Knut. Da lobte ihn Frau Gotthart, seine Lehrerin, und er war der Klassenbeste.

Einmal im Jahr kam der Zirkus in die Stadt. Das konnte Knut bereits an den bunt bemalten Waggons, den Zirkuswagen, erkennen, die jetzt, stolz freudig, vor seinem Fenster auf den Schienen des kleinen Rangierbahnhofes standen. “Der Zirkus ist da!” rief die Mama. “Zirkus” sagte Knut auf seinem Töpfchen und gemeinsam beobachteten sie die Elefanten, die nun ausgeladen wurden. Wie lustig war es gar, wenn die brav in einer Reihe marschierten, wie ein Güterzug, und der Rüssel des hinteren, ein Schlauch, sich mit dem Schwanz des vorderen Tieres verkuppelte. “Die gehen Hand in Hand,” sagte die Mama, “die großen Elefanten.” Aber es gab auch kleine. “Schau, der kleine da; Knütchen, das bist du. Und der große dort. Das ist die Mama.” “Bist du das, Mama?” fragte Knut. Da lachte die Mama und gab dem Knütchen ein recht rundes Küsschen.
Ein Erlebnis konnte das Knütchen nie vergessen. Frühmorgens ging er mit seinem braven Papa über das Kopfsteinpflaster, um sich die Güterwagen anzuschauen. Da aber war tierisches Gekreisch und menschliches Gebrüll. “Die laden Schlachtvieh ein.” sagte der Vater und Knut sah, wie ein paar Kerle roh auf ein nacktes Schwein knüppelten, um es über eine Rampe in den finsteren Waggon zu treiben. “Die armen Tiere. Die möchten nicht geschlachtet werden.” Da nahm das Knütchen die Hand von seinem Papa und wie zwei Elefanten gingen sie wieder nach Hause.
Nun blieb Knut lieber zu Hause und wenn seine Mama einmal das Fenster aufmachen wollte, so fing er an zu weinen. “Aber das riecht doch!” sagte die Mama, wenn sie das Töpfchen wegnahm. “Jetzt lassen wir mal die frische Luft rein.” Knütchen stand auf dem Klapptisch und heulte. Saß er auf seinem Töpfchen, so war das Fenster hübsch zu, und er recht fidel. Sein Gedärmchen machte so lustige Zuckungen. Bald wusste er seinen Stuhlgang im Rhythmus der großen Lokomotive zu kontrollieren, und noch später dann dirigierte er die Lok mit seinen Darmbewegungen. Aber das wusste die Mama nicht.
Längst kannte Knut die tristbelebte Eisenbahnlandschaft vor seinem Fenster auswendig, so dass er virtuos aus dem Gedächtnis ein Bild malen konnte. Den weißen Fensterrahmen malte er sehr artig und darinnen sah man die schwarze Lok mit den Güterwagen, ein paar magere Bäume, verruste Gartenhäuschen neben verfallenen Schuppen und Silos, und am Firmament erstrahlte nicht die goldene Sonne sondern, dick aufgebläht, ein pechschwarzer Gasometer.
Es gab auch eine klapprige Eisenbrücke, die wie eine alte Giraffe rostig auf die Schienenstränge schielte. Manchmal konnte Knut auf seinem Töpfchen thronend beobachten, wie Kinder auf ihr herumturnten. “Das sind böse Jungens,” sagte die Mama “ganz böse Jungens. Wenn die nun runterfallen…, und die Lok kommt…”
Einmal sah er, wie ein größerer Junge über das Brückengeländer tanzte. Die Mama war in der Küche und Knütchen saß allein vor dem Fenster. Da zuckte es in seinem Därmchen, und plötzlich verlor der Seiltänzer auf dem Geländer sein Gleichgewicht. Dann war er verschwunden. “Plumps.” sagte das Knütchen und genau da kam seine Mama und schaute ins Töpfchen. “Brav, Knütchen!” sagte die Mama und gab dem Knütchen ein recht rundes Küsschen.




II.

Hatte das Knütchen also bereits im zartesten Alter sein Talent zum Dirigieren der großen, weiten Welt gezeigt, so sollte doch bald darauf diesem Genie die Luft ausgehen. Wie die Gasometer am Horizont nach ihren Blähungen wieder abschwollen, so verlor er nun mit dem Töpfchen auch seinen Weitblick und sich selbst im Bauch der Wohnung und ihrer geheimnisvollen Gedärme. Schuld daran trugen sicher die braven Eltern. Denn wie mochten sie nur der schrulligen Idee verfallen sein, ihren Weihnachtsbaum nicht, gutbürgerlich, mit Kugeln, Zuckerwerk und Lametta zu behängen, sondern ihn vornehmlich mit kleinen Lokomotiven, Gasometern und vergoldeten Elefanten aufzuputzen? Und in welch liebevoller Sucht sie sich ins Auszieren der Details verloren hatten! Kein Elefant glich dem anderen, da ein jeder sein Rüsselchen in ganz eigener kapriziöser Gebärde zur Schau stellte, und aus den winzigen Schornsteinchen der Lokomotiven dampften noch winzigere Wattebäuschchen.
So konnte das Knütchen lange Stunden vor dem Baume verharren, auch auf einem Stühlchen stehen, um sich dieses Wunderreich mit Muße zu betrachten. Zu jeder Lokomotive erfand er ein charakteristisches “husch, husch”, und jeder Elefant trompetete sein ureigenes Leitmotiv. Das musikalische Netz der Erinnerungen, das solch harmloses Spielzeug in seiner Fantasie spann, verflocht sich mit dem Honigduft der brennenden Wachskerzen und Räucherstäbchen zu einem stets wundersameren polyphonen Geflecht, bis er, hypnotisiert von der magischen Stimmung, vor der Weihnachtskrippe erstarrte.
Hatten sich die Eltern mit der eigensinnigen Ausschmückung des Baums einer recht skurrilen Neigung hingegeben, so waren sie aber bei der Anordnung der Krippenfiguren konservativer Tradition gefolgt, und es gab nur wenige, schlichte Holzfiguren, das Christkind, Maria nebst Josef und Esel, die Weisen aus dem Morgenland mit einem dreibeinigen Kamel und einige Hirten, deren Schafe jedoch unter Palmen weideten.
Was aber waren Weihnachtsbaum und Krippe im Vergleich zur Modellbahn? Hier stand nun, fast wirklich, eine glänzende Lokomotive auf dem Teppich. Nicht nur läppische Watte konnte sie verdampfen, sondern recht putzige Rauchwölkchen pufften aus ihrer Nase, in die der Vater, erfinderisch, die Zigarette eines Räuchermeckis gesteckt hatte. Güterwagen gab es auch aber keine Schienenstränge, und so konnte Knut seine Lok unter mächtigem “husch, husch!” durch alle Räume der Wohnung, ja sogar noch über die Wendeltreppe und auf dem Dachboden umherschieben. Dabei beobachtete er nun alle Möbelstücke, alle Schränke und geheimen Winkel aus der Perspektive eines Lokführers, der wohl nie zuvor solch exotische Gegenden erblickt haben mochte. Selbstverständlich erhielten diese Gegenden auch Namen nebst ritualistischer Funktion, die ganz eigenen knutischen Gesetzen gehorchte. Die Krippe war der Güterbahnhof. In der Küche stand, gleich vor dem Gasherd, ein Signal. Da musste der Lokführer dann aufpassen; denn wenn das Gas brannte, so musste er halten.
Natürlich sollten auch Güter transportiert und verladen werden; es war ja ein Güterzug. Und so ergab es sich ganz von selbst, dass man zunächst die Schäfchen von der Krippe in die Waggons lud, dann aber auch die Maria, die Könige, das Christkind, Kamel und Esel und zuletzt sogar die Palmen, die nun jeweils zum Schlachthof transportiert wurden. Aber das wussten die Eltern nicht. Der Schlachthof, oder die Opferstelle, befand sich auf dem Dachboden, wo die abgeladenen Güter in einer Mausefalle zu Tode geschlagen wurden. Die Leichen wurden dann, galant, wieder in die Waggons geladen und erfreuten sich nur wenig später ihres gewohnten Platzes in der Krippe unter dem Weihnachtsbaum.
Ein kleiner Gespiele, das Karlchen, war ein Nachbarssohn und dem Knut ein braver Knappe. Nur einmal verweigerte er den Befehl nämlich, als der Lokomotivführer die Karlschen Finger zu Opfertieren erklärte. Zwar ließ der Karl sich die Hände bis auf den Dachboden transportieren, aber als der Zeigefinger seiner Linken in die Mausefalle gelegt werden sollte, steckte er seine Hände in die Hosentaschen und wollte partout nicht weiterspielen. Er verließ, noch mit den Händen in den Hosentaschen, die gefährliche Wohnung und selbst daheim zog er sie nur noch selten heraus. Prompt kam er dann auch nicht wieder, und so hatten der Knut und seine Lokomotive lange Zeit keinen Spielkameraden.


III.

Vom Schulweg soll nun die Rede sein. Der war bleistiftgerade, schlängelte sich nicht umher und herum wie die knutische Opferbahn auf ihrem blutigen Weg zum Dachboden. Wieder gab es die Eisenbahn. Der Weghäuserweg nämlich, der die Peripherie der Stadt mit ihrem mittelalterlichen Kern verbindend direkt zur Schule…, genau in der Mitte kreuzten ihn die Schienenstränge und zerschnitten ihn in zwei gleichlange, jedoch sehr verschiedene, Abschnitte.
Hatte das Knütchen einst als ein Babygott auf seinem olympischen Töpfchen gethront, und herrschte er noch später dann recht mutwillig über sein Spielzeug, wenn er, dachbodentyrannisch, das Todesurteil an den unschuldigen Holzlämmern, ja sogar am lieben Jesulein, mit einer Mausefalle vollstreckte, so hatte sich nun auf dem Weghäuserweg eine fertige Szenerie bereits eigenlaunig posiert und Knut ward, wenn er zur Schule ging, nur wie mit einem Pinsel hindurchgemalt. Sein Versuch, sich diese Szenerie ritualistisch einzuverleiben, gelang ihm nicht unmittelbar. Es war die Straße selbst, die ihren eigentlichen Charakter in sein Gemüt hineindrückte.
Hier herrschte zunächst das prosaïsche Reich der Peripherie, mit dem Knut oberflächlich vertraut war, ein seltsames Gemisch reizvoller Trostlosigkeit aus Kohlenhandlungen, abgegrauten Mietskasernen, schäbigen Lagerschuppen, aber auch einigen verblichenen Bürgerhäusern, die, in diesem städtischen Müllhaufen stehengeblieben, sich zum Schutze gegen ihn mit kargen Gärtchen umgeben hatten. Das Kalte, das Desolate an den lieblosen Fassaden mochte jedoch täuschen. Eine robust gehässige Energie schien geheimnisvoll im Inneren der verrusten Behausungen zu lauern, eine Energie, die Knut, wenn er sich einmal hinausgewagt hatte, rasch provozierte. Nur auf dem glatten Eis brauchte er einmal auszurutschen, und schon krächzte ihm eine lakonische Altweiberstimme ihr “Das kommt davon!” hinunter. Bäume waren rar in diesem steinernen Reich, und so zerschellte das Gekrächze der Fensterkrähe hart auf der gefrorenen Straße, die Klangscherben prallten ab und starrten dem Ohr einen Moment lang in plastischer Schärfe entgegen, bevor sie sich, hämisch, in den Winterhimmel zerkicherten. Knütchen merkte sich das Fenster, erriet den Briefkasten, und später dann stopfte er der Frau Bothe ein wenig Hundedreck in den Einwurfschlitz.
Später dann…, das heißt in der Dämmerung. Bei Tageslicht drückte sich der geheime Ninja nur flüchtig an Hecken und Hauswänden entlang. Dem Hund des Kohlenhändlers und seiner garstigen Tonart wich er antizipatorisch aus, indem er diagonal ins Trottoir vis-à-vis modulierte und manchmal, wenn ihn “böse Jungens” mit Steinen bewarfen, half es ihm nur, sich “tot” auf die Erde fallenzulassen. Die Blumen der Rache erblühten erst an dunklen Winterabenden, an denen er, vor dem Abendbrot mit seinem Fahrrad unterwegs, die Post verteilte. Die Briefe schrieb er säuberlich mit schwarzer Schadenfreude und Tinte, wobei sich seine rhetorischen Ausdrucksmittel stetig verfeinerten. Des Hundedrecks war er bald überdrüssig. Grobe Beleidigungen langweilten ihn. Stets jedoch waren es die Namen über den Einwurfschlitzen, welche die Beete seiner Fantasie düngten. Aus den Namen erwuchsen ihm fiktive Affekte, die sich bald zu Figuren, meist recht schurkischen Charakters, verdichteten. Die Rollen wurden mit dramaturgischem Geschick verteilt, und rasch hatte sein erfinderischer Sinn einen epistolographischen Dialog verfasst, der aber nicht als Gesamtwerk sondern kapitelweise in den entsprechenden Briefkästen erschien. Es begann zum Beispiel mit der Botschaft der Frau Bothe, in der sie, kurzentschlossen, dem “sehr geehrten” Kohlenhändler eine Kriegserklärung machte und damit drohte, seinen Hund zu vergiften, während Herr Schössner hingegen versprach, das Bothesche Fenster mit Eierbriketts zu beschießen. Kurios ist es, dass dem in grauer Wirklichkeit eher autistisch reagierenden Jungen die fiktiven, seiner Eigenfantasie entsprossenen Gestalten um so farbreicher erstrahlten und besonders, wenn er, ein Marionettenmeister, ihre Fäden in seiner Hand hielt. So ward ihm die Frau Bothe, die er doch nur als Fensterkrähe vernommen, eine haarig bewarzte Hexe und das biedere Kohlenmännchen verwandelte sich gar in einen bucklichten Kobold mit acht hageren Spinnenbeinen.

Diese Ausschmückung seiner Invention und die damit verbundenen literarischen Ambitionen aber gehören in das Zeitalter der dritten Klasse, und wir wollen Knut zuerst einmal seinen Schulweg fortsetzen lassen.
Hatte er das prosaïsche Reich der Peripherie hinter sich gelassen, so zog sich der Weghäuserweg noch durch eine trostlose Moorniederung, bevor er den Bahnübergang und die gegenüberliegenden eleganteren Wohngebiete erreichte. In diesem verwilderten Gebiet war die Straße von dem parallel laufenden Bahndamm nur durch die versumpften Auen des verschlammten Waatbaches getrennt. Häuser gab es hier nicht mit Ausnahme einer exotischen Siedlung ausgedienter Zirkuswagen direkt neben dem Bahndamm. Einige dieser Waggons waren recht pittoresk zu kleinen Schreberhäuschen ausgebaut, und dass sie nicht unbewohnt waren, konnte man am Rauch und an den Pferdeköpfen erkennen, die über den Dächern der Siedlung schwebten.
Mit den Siedlern selbst kam Knut eigentlich niemals in Kontakt. Nur einmal, als er über die Schienen nach Hause gehen wollte, lud ihn ein recht bärtiger Geselle ins Interieur eines Waggons. Knut fühlte sich zunächst wenig behaglich in der verrauchten Atmosphäre, doch der leicht angetrunkene Mann schien in verzauberter Stimmung, erzählte allerlei Schwänke, in denen er sich selbst als Dompteur, Akrobat, ja sogar als Zirkusdirektor glänzen ließ, und spielte auf einem verstimmten Blüthner dem verblüfften Knütchen sogar eine rassige Polka herunter. Hierbei konnte der Bärtige seine Zigarette beim Spielen geschickt zwischen zwei Fingern der rechten Hand halten, ohne auch nur ein wenig Asche auf die Klaviertasten fallen zu lassen, und Knut musste nun zugeben, dass sein exzentrischer Gastgeber in der Tat ein Akrobat war. Es gelang dem Jungen auch endlich, ein artiges Aufwiedersehen zu murmeln und unbehelligt seinen Weg über die Schienen fortzusetzen, doch in der Zukunft vermied er dann den Bahndamm und beschränkte sein Revier vorerst auf die Straße.

Wie anders aber nun das Bild vom höherliegenden Bahnübergang in die tiefschattige alte Eichenallee! War dies überhaupt noch der Weghäuserweg? Besonders anmutig belebte sich das üppige Gewölbe, wenn im Frühlingswind die Sonne das Spiel der Zweige und Blättchen vom weit überspannenden Baldachin aufs Pflaster projizierte. Ließ man sich dazu einladen, durch dieses reich animierte Schattenlabyrinth hindurchzuspazieren, so mochte man glauben, im Innern eines schwarz-weißen Kaleidoskops zu wandeln, und das Fachwerk der Häuser, das links und rechts hinter den mächtigen Eichenstämmen hervorschimmerte, vertiefte und vervielfältigte noch diesen Eindruck. Die einzigen Farbtupfer im heimlichen Dunkel stammten von den Lichtsignalen einer Ampel, und im Sommer, wenn der raunende Blättertunnel noch schwärzer, noch undurchdringlicher wucherte, strahlte das rot-weiß gestreifte Dach des italienischen Eiswagens recht verlockend hervor. So grell übrigens, und künstlich angestrahlt, dass die meisten Kunden eine kleine Baumhütte übersahen, die sich hoch über der Straße im Eichengeäst versteckt hatte und die man über ein sehr provisorisches Leiterlein vom Dach des Eiswagens erklettern konnte. Im Innern der umlaubten Bretterhütte saß man in spartanischer Idylle auf einer harten hölzernen Bank wie in einem Hochstand. Luigi - so nannte sich der Eisverkäufer, obwohl er Otto Falkner hieß - hatte hier ein paar vergilbte Fotos römischer Altertümer aufgehängt, und wenn er in der rechten Eislaune war, erlaubte er seinen kleinen Stammkunden, die Leckereien in der hohen Baumlaube zu schlecken. “Albero, albero…; casa, casa…” murmelte er geheimnisvoll, und “das alberne Haus” nannten es die Kinder.
Albern konnte man dort vorzüglich, und wenn Knut, um sie zu trösten, die Susanne eingeladen hatte, so vergnügten sich die beiden oft damit, vor die Hunde, über die Radfahrer, in die Babywagen, oder auf die vorbeiflanierenden Damenhüte zu spucken, und “Vogelregen bringt Segen”, murmelten sie verschwörerisch, wenn sie einen Volltreffer gelandet hatten.
Schwieriger war es dann bereits, fahrende Autos zu bespucken. Da musste man sich schon auf den Ast vorwagen. Einmal stand er dort sehr hilflos - wankend. Weder vor traute er sich noch zurück, und dass Knut nicht hinunterfiel, verdankte er nur der Susanne, die ihm aus der Hütte ihre Hand reichte.
Ein anderes Mal an einem heißen Nachmittag erwischten sie unter den Eiskunden ihre Klassenlehrerin, Frau Gotthart, der Luigi auf ihrem Heimweg ein Erdbeereis mit Sahne spendiert hatte und die nun mit ihm plauderte. Der Eisverkäufer spürte natürlich, dass er von oben belauscht wurde, prahlte vokalreich, würzte seinen Vortrag allzu reichlich mit südländischer Gestik, und aufschneiderisch fabulierte er sich durch allerlei Räuberpistolen aus Rom, wo er angeblich dreißig Jahre studiert haben wollte. Frau Gotthart wirkte verlegen. Sie vergaß sogar, an ihrem Eis zu lecken, Eis mit Sahne kleckerte in die nervöse Damenhand, tropfte von dort aufs Pflaster, und das fanden Knut und Susanne natürlich sehr lustig. Luigi hätte ihr auch sicher noch ein zweites Eis spendiert nur, um immerfort weiterprahlen zu können, und er wollte es ihr, mit Sahne, bereits in die bekleckerte Hand drücken. Da aber fasste sich Frau Gotthart ein Herz, schleckte das Geschmolzene von den Fingern, zwitscherte ein schalkhaftes Arrivederci und ging ihres Weges. Nun konnte auch Susanne wieder lachen, obwohl sie im Diktat eine Fünf bekommen hatte.
Leider war die fröhliche Zeit der Baumidylle rasch vergangen. Als Knut in die dritte Klasse ging, war Luigi mit seinem Eiswagen plötzlich verschwunden. Und das alberne Haus? Das hatte man abgerissen.


IV.

Endlich nähern wir uns der Bölker-Schule. Selten hat eine verschrobene Fantasie ihre architektonische Raffinesse auf so leckerem Stilsalat angerichtet! Kantig, mit altem Sandsteingemäuer ummantelt, gräulich besudelt, auch mit klobigen kleinen Burgfenstern durchsetzt, schien das Erdgeschoss eine Strafanstalt und, dass in den Kellergewölben im historischen Folterverlies noch Skelette schmachteten, das bezweifelten nur wenige. Gleich über jene gedrungene Basis aber hatte sich, recht luftig, die Beletage aus grünem Fachwerk verzapft. Dieses launische Obergeschoss mit seinen spitzigen Erkerchen mochte das Parterre an Höhe wohl um ein Dreifaches übertreffen, und entsprechend stieg auch das Bildungsniveau der Schüler, die aus den unteren Klassen in die dritte hinaufstiegen. Knut, wenn er sich seinen Grübeleien ergab, konnte hier lange Stunden in die gotische Höhe des Raumes oder, durch die Erkerfenster, auf die alten Eichen des Weghäuserwegs starren.
Eine vornehme Gliederung erfuhr die bizarre Fassade der Bölker-Schule noch durch einen kapellenartigen Vorbau dessen stattliches Mansarddach den Schieferfirst des eigentlichen Hauptgebäudes überragte. Auch das mit reichen Arabesken verzierte Schultor war in diese wuchtige Auslucht gesetzt.
Begleiten wir aber nun den Knut, wie er sich zum ersten Mal und mit einer beschleiften Zuckertüte und mit seiner Mama am Arm durch eben dieses Tor drückte. Nein, so etwas hatte er niemals gerochen. Seine Nase witterte die gebildete Atmosphäre von frischer Farbe, Schimmel und Bohnerwachs in dem feuchten Gemäuer und auf den dunklen Dielen, und sie witterte eine stickige Zukunft. Schon wurde er jedoch abgelenkt, verwirrt von dem Gewimmel der Kinder die, ihrer stickigen Zukunft trotzend, kreischend und jauchzend treppauf hüpften, um sich geländerrutschend wieder heruntersausen zu lassen. Wie ein Klumpen blieb er stehen, Knut, traute sich nicht weiterzugehen. Seine Arme umklammerten die Schultüte als wäre sie ein Teddybär, während eine Dame, die Lehrerin, mit seiner Mama plauderte. “Willst Du nicht spielen, Knut?” fragte man ihn. “Sind das ganz böse Kinder?” fragte Knut. Aber man lachte und schob den einfältigen Jungen über den Flur ins Klassenzimmer.
Ordentlicher wirkte nun die Komposition des Raumes hier. Geputzt und sehr dunkelgrün die Tafel. Darunter leuchtete es kreideweiß, und gleich neben der Tafel offerierte ein winziges Waschbecken Seife und Handtuch, damit man sich die Kreide auch wieder von den Fingern wüsche. Die kleinen Holztischchen standen hübsch artikuliert in Reihen und brav vor dem gewichtigeren Lehrertisch. Rasch suchten sich die Kinder ihre Plätze aus, stets zwei an einem Tisch, und es gesellten sich die Knaben zu den Knaben, die Mädchen zu ihresgleichen. Doch nur Knut kam als einziger Junge neben ein kleines, unscheinbares Mädchen zu sitzen.
Die Kasperlepuppe der Frau Gotthart machte eine lange Nase und lachte auch ein recht artiges Liedchen auf die Kinder herab, die nun ganz andächtig lauschten, und das gefiel dem Knut außerordentlich. Nach seinem liebsten Spielzeug fragte ihn das Kasperle: “Spielst Du gern mit Autos?”
“Nein.” sagte Knut. “Ich spiele mit der Lokomotive.”
“Mit der Lokomotive!” krächzte Kasper und sah den Knut scharf an. “Hui! Das ist aber gefährlich! Und…, möchtest Du ein Lokführer werden?” Hier verharrte der Kasper erwartungsfroh und reckte sein rotes Näschen in die Höhe.
“Ja, Kasper. Ich will ein Lokomotivführer werden.” sagte Knut. Da klatschte Kasper in seine hölzernen Hände und mit ihm klatschten auch alle Kinder.


V.

Genau 32. So viele Kinder gab es in der 1a Klasse. Das waren also sechzehn Tische in vier Reihen, je vier Tischchen in einer Reihe. Ideal für das Blitzlesen, denn leicht ließ sich so das Lesefeuer mit Wendekarten anfachen. Frau Gotthart lächelte sich zum ersten Tisch und verdeckte ihren runden Busen mit einem grellweißen Stück Pappe. Sehr konzentriert starrte sie in die Ferne, und ihre Daumenknöchelchen zeigten verkrampft nach außen. Wie der Kasper schaute sie aus. Offensichtlich wollte sie demonstrieren. Aber wofür? Plötzlich durchzuckte es Frau Gotthart. Hände und Karte drehten sich blitzartig um ihre Achse. Ein schwarzes Wort in schrecklicher Deutlichkeit. Zwei Sekunden später war es wieder eine weiße Karte. “Baum!” brüllte Andreas und durfte aufstehen. Beschämt blieb Wölfchen sitzen.
Nun stand Frau Gotthart erwartungsfroh vor Knut und Susanne. Eine weiße Leere stand vor Knut und in seinem Kopf. Da fuhr, von rechts nach links, eine hübsche schwarze Lokomotive durch das Weiß. Genau zwei dünne Schornsteine hatte das “Loko” und die “o’s” waren zwei kleine Räder. Auch der Tender dahinter, das “motive”, hatte ein kleines Rad.
“Lokomotive!” sagte Knut wie aus der Pistole geschossen, und er durfte aufstehen. Er hatte aber auch bemerkt, wie Frau Gottharts rote Lippen ein stummes “Lokomotive” murmelten. Eigentlich bewegten sich die Lippen bereits, bevor man das Wort auf der Karte sehen konnte.
Sechzehn Kinder standen nun im Klassenzimmer, an jedem Tischchen eines. Dann waren es nur noch acht, dann vier. Die beiden Finalisten, Knut und Marion, durften sich vor den Lehrertisch stellen.
Plötzlich roch es bohnerwächsern aus dem gerundeten Mund der Lehrerin. “Schule!” schrie Knut fast noch bevor sich die Karte gewendet hatte. Sie schauten recht betroffen, Marion und Frau Gotthart, denn unbegreiflich erschien so eine Blitzintuition, unheimlich, magisch. Knut aber war Sieger und durfte das rosa Himbeerbonbon lutschen.

In der zweiten Klasse dann, wohl weil er die besten Noten hatte, war er Klassensprecher. Und nun durfte er manchmal sogar am Lehrertisch sitzen und aufpassen, wenn sich Frau Gotthart verspätet hatte oder in die Konferenz hinausgerufen wurde.
“Heute wollen wir das Blitzlesen spielen!” rief er da einst. Sogar die weißen Kärtchen, sorgfältig selbst bemalt, zog er aus dem Tornister und hielt sie nun, ganz wie Frau Gotthart, vor seine Brust. Aber nur eine Sekunde gönnte er seinen Opfern den Blick aufs Wort.
“Hund!” schrie Burkhard und wollte aufstehen. “Du bleibst sitzen.” sagte Knut. “Wir spielen heute umgekehrt. Der Verlierer steht auf und kämpft mit dem Verlierer.” Ein leises Stöhnen wehte durch die Reihen, aber man unterwarf sich dem Tyrannen. Zum Schluss stand nur noch die Susanne mit Tränen in den Augen. “Fiesss…” zischte es in der letzten Reihe.
“Jetzt kämpfe ich mit Susanne, denn ich habe ja noch nicht.” verkündete Knut und gab Wolfgang die Karten. Der mischte sie umständlich. Dann zog er eine heraus. Knut schaute gelangweilt zur Decke. “Eis…” flüsterte Susanne endlich und die Kinder klatschten. “Ich bin der Großverlierer,” sprach Knut lakonisch, ging zum Tornister, zauberte ein Himbeerbonbon hervor, “daher gehört das Bonbon mir.” und stopfte es in die Hosentasche. Da lachten die Kinder. Ein paar protestierten.
Später, bei Luigi im albernen Haus, gab er der Susanne das Himbeerbonbon und kurz bevor sie es hinweggelutscht hatte, spuckte sie’s auf das rot-weiß gestreifte Dach des Eiswagens.


VI.

Nicht immer, übrigens, war das italienische Rot-Weiß der einzige Farbtupfer in der alten Eichenallee, denn manchmal an nachmittäglichen Feierabenden durchwandelte ein zartes Rosa ihr schwarz-weißes Schattenlabyrinth. Dies aber war kein Himbeerbonbon sondern, angeregt durch das anmutige Schattenspiel ihrem Heimweg und ihren Betrachtungen folgend, Frau Silke Gotthart persönlich. Befreit hatten sich ihre Gedanken nun; entflohen den gotischen Gewölben der Bölker-Schule durften sie sich unter dem Baldachin der Zweige und Blättchen barock fortspinnen. Meist rankten sie sich, Arabesken, um ihren Lieblingsschüler Knut. Knut Lampe. Hier hatte die ehrgeizige Lehrerin mit ihrem Blitzlesen ein geradezu furchterregendes Genie aus der Flasche gezaubert, klein zwar noch, doch schon bald blähte sich seine Gestalt ins Riesenhafte. Der Geist, IQ 180, verbeugte sich vor Fräulein Gotthart und fragte mit leicht italienischem Akzent: “Womit kann ich dienen, Signorina?”
“Oh..., Erdbeer...” murmelte Fräulein Gotthart, zu spät aus ihrem orientalischen Traum erwachend.
“Con pane,” erwiderte Luigi, “köstliche Erdbeer und Sahne. Das passt wunderbar zu Ihrem schönen Kostüm.”
“Aber das ist doch Himbeer...” Und schon wieder lutschten die Gotthartschen Gedanken ihr Lieblingsbonbon. ‘Er ist ein Genie. Ich muss aufpassen, dass er seine Macht nicht missbraucht.’ Wolfgang hatte sich über den Klassensprecher, der das Blitzlesen verkehrt spielte und dann auch noch absichtlich verlor, beschwert. ‘Er ist ein Genie. Aber ich muss mit ihm sprechen.’ “Noch eins, Signorina?” fragte Luigi und wollte ihr bereits ein weiteres Eis spendieren. Aber die Signorina bedankte sich mit einem koketten Arrivederci und ging auf dem Wege ihren Gedanken nach.
Was hatte denn dieser Luigi, alias Otto, aus seinem charmanten Talent gemacht? 30 Jahre Rom? Eisverkäufer auf dem Weghäuserweg.
‘Nein’, murmelte Silke Gotthart, verließ den Weghäuserweg und bog in das Philosophenviertel ab. Oder ein zerfleddertes Genie, dachte sie auf der Schellingstraße, wie zum Beispiel ihr Vater, der versoffene Professor Gotthart, der die geschwollenen Füße kaum noch in seine abgelatschten Pantoffeln zwängen konnte und der nun in Socken schweißfüßig durch die Stube watschelte.
Ohne Disziplin ist der Geist ein Tolpatsch. Fräulein Gotthart durchschritt die Schrebergärten, ihr Himbeerkostüm erblühte erotisch vor den saftig grünen Hecken und das Gesicht formte einen Schmollmund als sie an den Tolpatsch dachte. Der hätte ihr ums Haar Talent und Leben verpfuscht. Tausend Ideen waren im Kopf des Professors erblüht und der steckte seine exotischen Blumensträuße in die Schnappsflasche. Verwelkt. Silkes Mutter zwar hatte die Flaschen versteckt, einmal sogar gleich neben den Pedalen im Klavierkasten, während Silke die Träumerei übte. Zu Schlägereien zwischen den Eltern war es dann tatsächlich gekommen und sie, als sie in der Klavierstunde ihren Schumann vorspielen sollte, hatte sich übergeben müssen. Noch heute löste der Gedanke an die Träumerei einen Brechreiz aus.
Ihr inneres Chaos konnte Silke zum Glück als BDM Führerin bekämpfen; das äußere erhielt kurze Zeit später seine Einberufung. Seltsamerweise regenerierte sich ihr Vater im Krieg, da er als Soldat nicht trinken konnte. Und sie sammelte ihren Willen und erbaute sich ihre feste Burg aus Disziplin, die BDM Führerin Gotthart.
Hier hatte die Führerin das Reich der Schrebergärten hinter sich gelassen und näherte sich festen Schrittes einer Siedlung uniformer Reihenhäuser von denen sie eines, direkt neben den Eltern, bewohnte. Nachdem Silke die Pflege des kränkelnden Paares übernommen hatte, wechselte ihre Mutter die Partei und verschwor sich mit dem Schnapps und dem Gatten gegen die eigene Tochter. Nun war sie es, Silke, die die Flaschen verstecken musste, denn ihre Eltern, sie musste das zugeben, benahmen sich kindischer als die Bölkerschüler. Der Unterschied war eigentlich nur, dass sie die letzteren mit Bonbons, die ersteren mit Schnapps regierte. Zum Glück gab es einen Jungen wie Knut, ein Genie. Nur hier wurden ihre Bemühungen wirklich belohnt.
Fräulein Gotthart hängte ihren Sonnenhut an den Haken und als Kadenz verschloss sie die Tür.


VII.

Am nächsten Schultag schon verkündete Frau Gotthart der 2a Klasse, dass der Klassensprecher nach der Stunde zu einem Gespräch bleiben möge. Verdutzt starrte Susanne auf Knut, und die Kinder tuschelten. Knut starrte auf die Fibel hinab und, nachdem es geläutet hatte, blieb er auf seinem Platz sitzen. Susanne verließ als letzte das Schulzimmer, und nun war es sehr still. Knut starrte auf den Lehrertisch, an dem er selbst noch vor zwei Tagen gesessen hatte. Auf dem Tisch standen die gefalteten Hände mit rosa Fingernägeln genau in der Mitte vor dem Gotthartschen Rundbusen, und ein blumiges Parfüm drängte sich, sehr melodiös, vor den Bohnerwachsgeruch.
“Du bist ein tüchtiger Klassensprecher, Knut. Ich habe gehört, ihr habt am Dienstag Blitzlesen gespielt.”
“Ja.”
“Aber das ist doch was für Erstklässler!”
“Wir haben umgekehrt gespielt.”
“Umgekehrt gespielt? Habt ihr rückwärts gelesen?”
“Nein, vorwärts. Aber wir habe die Verlierer gegeneinander kämpfen lassen.”
“Ach was..., und wer ist dann Sieger?”
“Der Verlierer.”
Die rosa Lippen der Frau Gotthart zogen sich zu einem Schmollmund zusammen, der fast wie ein Himbeerbonbon auf ihrem Gesicht klebte. Knut schaute auf die dunkelgrüne Tafel. ‘Querschnitt durch eine Schleuse des Mittellandkanals’ stand dort in Kreide, aber der Querschnitt selbst war bereits weggewischt.
“Und der Verlierer warst Du natürlich.”
“Ja.”
“Wieso? Kannst Du plötzlich nicht mehr lesen?”
“Ich habe nicht hingekuckt.”
“Oh! Dann hast Du geschummelt! Du hättest nicht das Himbeerbonbon kriegen sollen!”
“Ich habe es der Susanne gegeben.”
“Ach..., na das ist aber eine Beleidigung! Damit sagst Du ihr ja, dass sie die eigentliche Verliererin ist!”
“Aber wir haben doch ums Verlieren gespielt.”
Frau Gotthart musste lachen, und Knut sah die Zähne in ihrem Himbeerbonbon.
“Du hast entschieden zu viel Gripps für einen Lokomotivführer, mein Lieber.”
“Ich muss mehr Senf essen. Senf macht dumm, sagt Mama immer.”
“Dann nehmen wir jetzt Senfbonbons. Alle Gewinner müssen Senfbonbons essen. Wo hast Du eigentlich das Himbeerbonbon her?”
“Das habe ich aufgehoben von früher.”
“Igitt! Und sowas gibst Du der Susanne?”
“Sie hats ja ausgespuckt.”
“Du bist wohl nie um eine Antwort verlegen, sag mal?! Nächsten Dienstag habe ich wieder eine Lehrerkonferenz. Dann lassen wir mal Susanne am Lehrertisch sitzen. Vielleicht hat sie ja eine ganz andere tolle Idee für ein interessantes Spiel.”
Frau Gotthart erhob sich, verließ würdigen Schrittes das Klassenzimmer und hinterließ ein sehr wolkiges Aroma, in dem Knut noch lange sitzen blieb.

Aber dann war sein Platz leer am folgenden Dienstag. Susanne thronte vor der Klasse in Lehrerposition, doch genießen konnte sie die neuerworbene Würde gar nicht. Leer stand ihr Schülertisch in der zweiten Reihe und genauso leer stand ihr auch der Kopf. Da hatte sie doch ein Spiel machen wollen, die Reise nach Jerusalem. Sie selbst, das hatte ihr Vater vorgeschlagen, wollte Mundharmonika spielen, während die Kinder im Kreis um die Stühle tanzen sollten. Wie lustig! Im Traum hatte sie es ja geprobt. Und nun saß sie ganz stur vor der Klasse, so stumm, dass es immer peinlicher wurde.
Wolfgang endlich durchbrach mit einem lauten Rülpser die verhexte Stille und wurde von Susanne mit einem Stück Kreide beworfen. Der Konflikt eskalierte explosionsartig, da auch Radiergummis, Fibeln, Seife und Handtuch durch die Luft flogen.
Plötzlich stand Frau Gotthart im Klassenzimmer. Die Flugobjekte blieben in der Luft stehen. “Kinder...”, klagte Frau Gotthart, “Knut liegt mit Darmverschluss im Krankenhaus!”


VIII.

Im Johannisstift, einem Teil der Universitätsklinik, nicht weit entfernt von der Bölker-Schule, genoss Knut eine Sorglosigkeit so weiß wie die Betten der Frau Holle, die Wände des Krankenzimmers und der Kittel von Schwester Bertha. Am Morgen, gleich nach dem Frühstück, hatten die Bauchkrämpfe eingesetzt, die ihn periodisch, wie bei Geburtswehen, agonische Klagelaute ausstoßen ließen. Dr. Deimler machte sofort einen Hausbesuch und ein paar Scherze und tastete den knutischen Bauch ab. “Ah ja...” seufzte Dr. Deimler und winkte die Mama zu einer geheimen Konferenz in die Küche. Knut lag im Kinderzimmer und seine Krämpfe hatten sich bereits gelindert, da kam die Mama mit Tränen in den Augen und einem Klistier in der Hand zurück. Dann kam auch Dr. Deimler. “Wir können ihn auch gleich in die Intensivstation bringen. Wenn sich die Kotsteine nicht lösen, werden wir einen Eingriff machen müssen.”
Die Mama setzte sich auf das Bett und heulte. Knut fühlte keine Krämpfe mehr und nach einem Klistier im Johannisstift entledigte er sich prompt seiner Kotsteine und blieb nun, zu Beobachtungszwecken, einen weiteren Tag im Krankenhaus. Umsorgt wurde er von seiner Mama und Schwester Bertha mit der Knollennase, und je bewegter ihn diese zwei Schmetterlinge umflatterten, desto ruhiger lag der Junge in seinem Bettchen.

Am Mittwoch Morgen, gleich nach der großen Pause, öffnete sich das mit reichen Arabesken verzierte Schultor der Bölker-Schule. Und eine Schar lärmender Kinder eroberte sich den Weghäuserweg? Nein. Eine Reihe von andächtigen Pärchen, Hand in Hand, pilgerte fromm durch die Eichenallee, über die Salbe-Brücke, vorbei an der ehrwürdigen, alten Fichte Universität und näherte sich einer ziegelroten Backsteinburg, dem Johannisstift. Eine geläuterte Stille lag auf den Gesichtern der Kinder, die sich auch in der weihevollen Haltung der Äbtissin Gotthart ausdrückte. Gesenkten Kopfes betrat man das Johannisstift und lauschte einer nervös gemurmelten Predigt der Mutter Lampe, in der die Wörter Krämpfe, Kolik, Entzündung, Verschluss ihre magische Kraft im Gemüt der Pilger entfalteten.
Der Patient selbst schlummerte in einem sehr weißen Einzelzimmer in einem sehr weißen Bettchen, ein sehr leises, entrücktes Lächeln spielte um seine Mundwinkel und die Sonne warf einen sehr hellen, leicht verrutschten Heiligenschein auf das Kopfkissen. Ohne zu atmen starrten Schwester Bertha, Mama Lampe, Äbtissin Gotthart und die Pilger auf das Antlitz des Heiligen. Plötzlich öffneten sich die Augen. “Er lebt...”, flüsterte Susanne, “Knut!”, rief die Äbtissin und Andreas übergab dem Heiligen eine Schokoladenlokomotive mit der Anweisung “Aber die darfst du erst essen, wenn du wieder gesund bist!”
“Die Schokomotive essen wir dann alle zusammen.”, lächelte Knut.
“Aber zuerst fahren wir damit nach Jerusalem.”, sagte Susanne.

Noch zwei weitere Tage ruhte sich der Knut zu Hause im eigenen Bettchen aus und ließ sich von seiner Mama umpflegen, einer Dreifaltigkeit aus Mutter, Schwester und Äbtissin. Rund genug war sie ja, um diese drei gleichzeitig zu verkörpern. Seine Schokolok prangte auf dem kleinen Nachttisch. Der Asket jedoch berührte sie nicht einmal zum Spielen. Brav im Bett lag er und sein Zimmer betrachtete ihn mit einem Ausdruck ekstatischer Verzückung. Nicht nur vor seiner Mama oder dem Papa, der ihm sogar eine Geschichte vorlas, nein, auch vor sich selbst übte er sich in tiefer Andacht. Bis er begann, an sich zu glauben.
Als er aufstand, endlich, hatte sich seine Gestik verklärt. Eine Aura der Milde umschwebte sein Wesen und die Mama weinte Tränen der Rührung als sie der Wiederauferstehung ihres Knütchens gewahr wurde.
Und nun erst seine Klasse. Weich und mild ruhte der Heilige im Bild eines “Noli me tangere”. Ganz fest aber saß sein Status als Klassensprecher, fest wie der Kotstein im Darm. Freiwillig unterwarfen sich ihm die Jünger, boten ihm ein Blitzlesen ums Verlieren an. Doch bescheiden lehnte er es ab. Kinderspiele lagen ihm gar nicht. Am Ende des Halbjahrs hatte Knut ein Einser-Zeugnis. Zehn Einsen gabs, owohl doch nur neun Fächer bewertet waren. Aber generös hatte das Genie auch noch die 1 von “1. Halbjahr” hinzugerechnet.


IX.

Nicht all seine Jünger liebten ihn von Herzen. “Der Angeber” nannte ihn Wolfgang. Auch Marion, intelligente Rivalin, unterwarf sich ihm nicht und bewahrte ihre Würde als klassenbestes Mädchen. Seine treueste Verehrerin war ganz sicher Susanne Gabrowski. Die träumte sich sanft durch Tag und Schule und an ihrem Knütchen klebte sie wie ein Pilotfisch an seinem Hai.
Verspotteten sie da nicht die anderen Kinder? Durfte sich ein Mädchen mit einem Jungen so eng befreunden? Aber über Susanne ließ sich nicht spotten. Nur Fräulein Gotthart staunte. Diesem Schlusslicht also hatte ihr Klassenbester seine Gnade geschenkt. Was zog ihn bloß zu dem unbegabten Mädchen?
Hier nun war ihr Urteil, und typisch für einen Lehrer, sehr ungerecht. Blind glaubte sie, dass eine geistige Starre sich an der Langsamkeit des Kindes ablesen ließ. “Begriffsstutzig” nannte es Fräulein Gotthart. Nicht erfühlen konnte sie, wie reich sich die Fantasie hinter dieser Starre offenbarte. Dass die Eingebungen nicht, wie beim Knut, unmittelbar ins Begriffliche sprangen, lag eher an ihrer übergroßen Fülle, besonders ihrer Intensität. Wo beim Blitzlesen der Knut eine Lokomotive erblickend bereits “Lokomotive” schreien konnte, bevor ein biederer Leser die Buchstaben erblickt hatte, sah Susanne weit mehr. Ein bewegtes Bild malte sich in ihr Gemüt. Die Gotthart, harte Göttin, hatte sich eine Lilliput Lok geschnappt, hielt sie in gierigen Händen und wollte sie verzehren. Die schrecklichen Augen der Kannibalin hypnotisierten Susanne, die ja die Lilliputaner in der Lok retten wollte. Wunderbar erblühte die groteske Szene im Kopf und, husch, war die Lokomotive bereits verraucht, in die Ferne gefahren, die Kannibalin zwei Tische weiter gesprungen und stets auf der Suche nach neuen Opfern.
Beinahe übrigens wäre der Phantastin ihre Träumerei zum Verhängnis geworden. Bereits in der ersten Klasse hatte Fräulein Gotthart Herrn Gabrowski zu einem Gespräch gebeten. Die Sonderschule, meinte sie, sei doch besser für die Susanne. Dann saß sie dem blinden Vater gegenüber, bekam Angst und das gelehrte Wort “legasthenisch” durfte sich gar nicht mehr ihrem Himbeerbonbon entspucken. Vielleicht war das auch besser so. Ihrem Liebling, dem Knut, wollte sie ja nicht die Freundin rauben. Wer weiß, vielleicht würde es dem Genie noch gelingen, das träge Mädchen anzuspornen.
Und in der Tat. Die Leseschwäche seiner Tischnachbarin interessierte Knut nur wenig. Wie langweilig, hier aufzutrumpfen. Lustige Waffen waren sie zwar, die Begriffe, aber gegen Schwächere? Denen bot er sie an - ein Waffenverschenker.
Oft hockten sie in langer Stunde und Langerweile nebeneinander. Minutenlang konnte Susanne da stumm auf den alten Holztisch starren. Knut endlich ließ sich anstecken und starrte. Plötzlich sah auch er den lebhaften Spuk im verwachsenen Holzknoten der Maserung. Ein uraltes Hexengesicht zwinkerte ihm zu. “Brockenhexe” murmelte er und dem Mädchen hüpfte das Herz. “Das ist unsere Brockenhexe”, flüsterte sie und so ergänzten sich die Begabungen der beiden Kinder.

Ihre vergnügtesten Stunden veralberte Susanne in Luigis Eiche, im albernen Haus. Aus dem Eis machte sie sich eigentlich gar nichts. Sogar zu schlecken vergaß sie. Aber wie das so in Zeitlupe schmolz, wie Kerzenwachs zuerst auf den albernen Boden und dann durch die Ritzen zwischen den Holzbrettern aufs Trottoir des Weghäuserwegs, vielleicht sogar einem trottelnden Passanten auf die Glatze tropfte - wie entzückend war das doch.
Knut nun war es, der seine Empfindungen nicht nur mit dem Schmelzenden vertropfen ließ sondern, eiskalt, ein magisches Ritual komponierte, dem sich die Susanne begeistert unterwarf. “Vogelregen” nannte er das Spiel, und sie perfektionierten es durch gezieltes Spucken.
Ach, zum Verlieben war der alte Eichenbaum! Bereits mit Fräulein Gotthart hatten sie als Pilger viermal, Hand in Hand und ohne aus der Reihe zu tanzen, die Eichen des Weghäuserwegs besucht. Wissenschaftlich genau hatten sie deren jahreszeitlich bedingte Veränderungen beobachtet, no- und diskutiert. “Am 3. Januar”, stand in Knuts Kladde, “gingen wir wieder zu der Eiche Ecke Weghäuserweg / Schellingstraße und konnten beobachten, dass die restlichen Blätter im Herbst abgefallen waren. Der Baum ist jetzt ganz kahl. Zuerst fiel uns auf, dass die Äste mit Schnee bedeckt waren. Als wir genauer hinsahen, bemerkten wir auch in der rissigen Rinde der beiden Astlöcher Schnee.” Soweit in Tinte. Am Rand stand noch in Blei gekritzelt: “Winterschlussverkauf. Der Baum ist seine Blätter los geworden.”
Gar nicht gefallen hatten diese nüchternen Beobachtungen der Susanne. Auch die knutische Ironie war ihr doch ganz fremd. Zwar lachte sie brav über den “Winterschlussverkauf”, aber eher weinen musste sie über den Baum, über die verzweifelten Verrenkungen seiner gichtigen Finger.

Das alles war nun vergessen im Frühling. Üppig wucherten die frischen Triebe in die Laube und würzten sie mit säuerlichem Aroma. Hoch über der Erde schwebend, spürte Susanne keinen Schwindel. Eingewebt ins Grüne, in sein atmendes Wesen, fühlte sie sich frei und geborgen. Knut hingegen faszinierte die knorrige Tiefe des Stammes. Konnte er nicht einen kleinen Fahrstuhl hineinbauen, sich im Gedärm der Eiche verstecken und trotzdem alle Winkel besuchen? Und warum nicht noch tiefer hinab fahren in eine kleine vom Wurzelwerk der Eiche durchwachsene Kellerhütte? Dann immer tiefer hinab, per Fahrstuhl, tief ins Gedärm der Erde und zu den Fossilien. Vielleicht lebten da ja noch unterirdische Riesensaurier.
Gut abgeschirmt war man im Fahrstuhl. Die Saurier, wild und wütend, konnten einem dennoch nichts anhaben, während man gemütlich hier wie in einem Bathyskaph saß und sein Eis mit Sahne schleckte. Auch wunderlieblichste Reiche von Kristallkakteen durchfuhr man auf dem Weg ins Innere der Erde. Natürlich konnte man, wenn man Lust verspürte, das Fahrstuhlfenster öffnen und sich ein paar glitzernde Kristallstacheln abbrechen.
“Können die Saurier auch zu uns raufkommen?”, fragte Susanne.
“Aber die dürfen dann kein Eis kaufen. Luigi gibt denen nix ohne Geld.”
“Da schnappen die sich unser Eis!”
“Nee. Erdbeereis mögen die ja gar nicht. Die fressen doch Fleisch!”
“Wenn wir Fleischeis nehmen?”
Keine schlechte Idee. Heimlich würde Knut beim Mittagessen einen Bissen von seinem Kotelett übriglassen, in Papier eingewickelt in die Hosentasche stecken, stiekum, stiekum; und das würden sie dann, als Saurierköder sozusagen, mit Bindfaden an einen Ast nicht weit vom albernen Haus hängen. Stänke das nicht? Um so besser! Angelockt durch den Geruch kletterten die Saurier aus dem Erdinnern durch die hohle Eiche.
“Aber die ist doch gar nicht hohl.”, sagte Susanne.
“Dies ist nur ein vorläufiger Test. Wenn wir erst denn Fahrstuhlschacht fertig haben, dann wirds ernst.” Knut selbst glaubte kein Wort von dem - zu fantastisch jedoch das Gespinst, um darauf zu verzichten, und so war die Eiche im Netz ihres Spiels gefangen.
Einiges noch gabs zu erörtern: Welche Saurier wollten sie eigentlich anlocken? Donnerechsen, meinte Knut, seien leider ausgeschlossen. Die wären ja Vegetarier und auch zu riesig, um sich durch die Eiche zu zwängen; der klobige Triceratops hingegen zu schwerfällig. Klettern? Nein, das könne er nicht. So blieb ihnen nur der Tyrannosaurier übrig und begnügen würden sie sich damit, zunächst ein oder zwei jüngere Exemplare zu angeln.
Gesagt getan. Nicht nur einen Köder hängten sie auf sondern, strategisch platziert, gleich fünf! Nicht nur Kotelett boten sie an sondern auch Gehacktes, ein wenig Salami und zum Scherz hängte Knut noch ein hübsch gemaltes Guten Appetit Kärtchen dazu.
Was hätten sie nicht noch alles angestellt! Farbige Saurierbildern hätten sie auf Luigis vergilbte Bilder römischer Altertümer geklebt und die Eichenäste ringsum wie einen Christbaum mit Leckerbissen aus der häuslichen Küche geschmückt.
Hierzu jedoch sollte es nicht kommen. Eines Tages, ganz ohne Vorwarnung, waren Eiswagen, Sahne, Luigi auf und davon, Laube und Leiterlein abgerissen und nur noch vom Saurierfleisch konnte man hoch oben was baumeln sehen.
“Ich bin beruhigt.”, meinte Knut. “Nun können uns die Tyrannosaurier nicht mehr fressen.” Aber traurig waren sie doch, alle beide. “Ein Saurier”, sagte Susanne, “hat unsere arme Hütte gefressen.”


X.

Noch spukten die Saurier in ihren Köpfen, als sie die Schienen überquerten. Da plötzlich huschten zwei schwarze Schatten unter dem Bahnübergang hervor und flüchteten ins hohe Gras der Niederung. Susanne hielt Knut am Arm, aber rasch sprang der furchtlose Held den kleinen Abhang hinunter ins wuchernde Gras.
Saurier fand er nicht. Knochen…, allerlei Dreck hing im Gestrüpp. Dann sah er hinter hohen Brennnesseln eine alte besudelte Mauer. Ihr schwarzes Loch war der Eingang zu einem bunkerartigen kleinen Tunnel direkt unter dem Bahnübergang. Knut tastete die klobigen Steinblöcke ab. Dann ging er mutig ins Schwarze.
Kein Zweifel: Er hatte eine Saurierhöhle entdeckt. Vertrockneter Saurierdreck lag in dem Tunnel und, dass Knut nicht hineintrat, war ein Glück. Sein Haar streifte die steinerne Decke. Gräulich beschmiert erinnerte ihr Gemäuer an das historische Folterverlies der Bölker-Schule. Zugewachsen wie der Eingang war auch der Ausgang des Tunnels und fahl verlor sich das Licht in seinem Bauch.
Über ihm auf den Schienen stand noch Susanne und ängstigte sich. Verschwunden war ihr Knut im Innern der Erde verschluckt, womöglich, von Ungeheuern. Vorsichtig kletterte sie hinab. Da kam ihr mit geheimnisvollen Gesten der Forscher entgegen. Eine verborgene Saurierhöhle hatte er entdeckt.
Nun, über die Saurier ließ sich wohl streiten, doch verborgen war der kleine Tunnel bestimmt. Beide Eingänge verbargen sich hinter Brennnesseln, Gras und Gestrüpp und vom Weghäuserweg aus ließen sie sich nicht einmal erahnen. Wer hätte denn schon vermutet, dass der unscheinbare Bahnübergang unterhöhlt war? Und zu welchem Zweck? Sollte hier vom überschwemmten Waatbach einst Hochwasser abfließen?
Eine Weile standen sie staunend im Tunnel, da spürten sie ein Zittern im Gemäuer. Knut hielt eine Hand an den Stein und die Schwingungen übertrugen sich auf seinen Körper. Nun hörten sie ein pulsierendes Rauschen. Dem Knut war es nur zu vertraut. “Ein Zug”, flüsterte er. Susanne wollte hinausrennen, aber Knut hielt sie zurück. Täglich, fast stündlich, brausten Züge über den Tunnel und eingestürzt war er bis jetzt nicht. “Wir bleiben.”, sagte er. Nun hörten sie das wilde Kreischen der Lok. Ein wütendes Mammut stampfte direkt auf sie zu. Nie zuvor hatte Susanne einen Moment so grausen Schreckens durchlebt. Nur einen Meter über ihren Köpfen dröhnte das Scheusal vorüber.
Und kurze Zeit danach waren sie quietschfidel. Fast noch wunderbarer als die verlorene Baumhütte erschien diese geheime Steingrotte, über die die Lokomotiven hinwegdonnerten. Hier waren sie verborgen vor der Welt und einrichten konnten sie sich ihren kleinen Tunnel mit Muße.
Gesäubert werden musste er allerdings und hier, als sie den Hundedreck mit Zeitungspapier entfernten, hätte sie die Abenteuerlust beinahe verlassen. Zum Glück war der Raum recht klein und nun, um ihn auszuschmücken, kamen sie oft an freien Nachmittagen.
Kerzen ließen sich rasch auftreiben. Knut wusste ja, wo auf seinem Dachboden der Kasten mit dem Weihnachtsschmuck stand. Auch die alte Mäusefalle, verrostet und vergessen, sah er gleich daneben. Mobiliar konnten sie leicht vom Sperrmüll auf der Straße plündern, doch wer sollte die Schätze schleppen? Als er in Gedanken die Schienen abschritt, fiel Knut die Siedlung der Zirkuswaggons am Bahndamm ein. Trödel in Hülle und Fülle, Bretter, Radioteile, ganze Fernseher sogar, Schaukelstühle, verschossene Teppiche und auch einen verblassten Babywagen fanden sie dort und zu zweit, durchaus ohne Ächzen, trugen sie den prächtigen Krempel in drei oder vier Etappen neben den Schienensträngen bis hin zum Bahnübergang. Ihr kostbarster Fund, glaubte Susanne, waren zwei Teppiche. Lange und hart schlugen sie die gegen das Tunnelgemäuer und ergötzten sich an den üppigen Staubwolken. Dann endlich durften sie gemütlich in ihrer Höhle sitzen.

Regelmäßig rumpelten die Mammuts über sie. Bald schon wussten sie verschieden Typen voneinander zu unterscheiden. Schienenbusse ließen sie erzittern und es erbebte ihr Wohnzimmer unter den schweren Lokomotiven. Magisch aufs Gemäuer warf der Kerzenschein ihre zappelnden Schatten, die dort furios zum Lokrhythmus tanzten.
Überhaupt faszinierte sie das Schattenspiel. Allerlei Tier- und Monsterköpfe formten sie mit den Händen, ließen sie gegeneinander kämpfen und dem Regisseur gelang es bald, die dramatischsten Momente der Aufführung mit einem Mammutangriff zusammenfallen zu lassen. Nun schossen die streitenden Schatten wild durch den Raum, sehr effektvoll belebt unter dem Lokomotivendonner. Sogar die Schulstunde fiel der knutischen Dramaturgie zum Opfer. Er selbst, freilich, war Frau Gotthart, während Susanne entweder sich selbst, den Knut, oft auch beide darstellen durfte. Dabei trat der Künstler als gewaltiger Goliathschatten auf, doch nur ihre Hände ließ die Statistin spielen. Gern aus der Patsche half ihr der schlagfertige Freund, falls die Verlegene nicht schnell und scharf genug zu parieren wusste. Und wie konnte der seine Stimme verstellen! Angst und bange wurde es Susanne und wenn eine Lokomotive die teuflischen Dialoge überdröhnte, atmete sie auf.
“Wieviel”, lispelte die knutische Gotthart recht boshaft, “ist 37 mal 9?” Dies war nun durchaus keine liebenswürdige Parodie, denn die leibhaftige Gotthart hätte keineswegs eine derart schwierige Frage gestellt. Prompt auch war dem susannischen Knut der Mund wie zugenäht. Keine Antwort wusste er, nicht einmal eine lustige.
“333!”, quietschte Knut und recht realistisch ahmte er sich selbst nach.
“Brav, mein Knütchen…”, zischelte der Schatten. “Wie hast Du das so rasch erraten?”
“Ich habs mir an den Fingern abgezählt.”
“Oho, dann bist Du ein Pianist mit schnellen Fingern. Und sage mir, mein Lieberrr…” - hier ließ der Schatten ordentlich das “R” rollen, wie es sonst wohl nur noch Frau Mahlzahn aus Kummerland konnte - “wieviel Hände brrräuchtest Du wohl, um mir die Zahl Drrreihunderrtdrrreiunddrrreißick zu zeigen?”
“30 Hände, 30 Füße und 3 Nasen.”, erwiderte der Naseweis, fast noch etwas altklüger als der wirkliche.
“Und nun frrragen Wirrr einmal Susännnchen.” Das Tunnelgewölbe erbebte von dem Pluralis majestatis als wenn ein Güterzug hindurchratterte.
“Ssage ssie Unsss, Ssussilein, wieviel ssei 3 pluss 3?”
Susanne hasste es, wenn man sie Susi nannte. Schon wollte sie protestieren, aber es war ja nicht Knut, der sie so nannte, sondern jene Schattentyrannin.
“5 ½”, antwortete sie. Und so spitzfindig war sie doch eigentlich gar nicht.
“Brrrav, brrrav, Susännsileinchen. So lassen Wir Dich nur ein halbes Stündchen nachsitzen, dann haben Wirrr unserrre 6.”
“Ach bitte, bitte, Frau Gotthart. Ich will nicht nachsitzen. Darf ich nicht spielen?”
“Nachsitzen ist ein besonderrrs lussstiges Spielchen. Aberrr wenn Du willst, darrrfst Du auch in der Ecke stehen.” Stilisiert und fast wie eine chinesische Operndiva sang die knutische Gotthart diese Antwort. Tatsächlich nun machte die Eingeschüchterte Anstalten, in die Ecke zu gehen. Da flüsterte Knut unstilisiert: “Du brauchst doch nicht in die Ecke zu gehen. Nur Dein Handschatten geht dahin.”
Brav und schluchzend bewegte sich die kleine Schattensusanne zum Schaukelstuhl der, recht notdürftig nur, die Ecke des Klassenzimmers darstellte. Hier nahte allerdings nun ein wirklicher Güterzug, der die Tragödie auf ziemlich erschütternde Weise beschloss.


XI.

Die Saurier sind ausgestorben. 160 Millionen Jahre lang haben sie sich vergnügt miteinander und verspeist. Dann, genau wie Luigi und sein Speiseeis, verschwinden sie eines Tages. Auf Nimmerwiedersehen? Nun - im Innern der Erde spuken ihre Geister noch heute. Und wie schauen die aus? Nun - genau wie die Geister von Sauriern. Locken wir also ein kleines Tyrannogespenst durch die Eiche. Keinen Fahrstuhl braucht so ein Dämon. Schwupps ist er oben. Dass er sich nun nicht mehr gemütlich ins alberne Haus setzen kann, stört ihn nicht besonders. Ohne mit seiner tyrannischen Wimper zu zucken, schnappt er sich die vergammelten Leckerbissen der gutbürgerlichen Küche aus der Baumkrone. Ein wenig hungrig ist er, da er seit 60 Millionen Jahren nichts mehr gefressen hat.
Das frische, saftige Grün des Frühlings sieht er nicht. Schwarz-weiß ist das Empfinden fossiler Geister und deshalb starrt unser Tyrannogeist lieber ins tiefe Schattenlabyrinth der Allee. Und dass sich heute nachmittag ein zartes Himbeerbonbon in Blassblau gekleidet hat? Er sieht es nicht. Nur die rhythmischen Bewegungen eines leckeren Fleisches von sehr blumigem Aroma wittert seine Schnauze.

Frau Gotthart, eine blassblaue Dame, marschiert von der Bölker-Schule zum Philosophenviertel via Weghäuserweg. Luigi mit seiner Sahne ist verschwunden. Verschwunden mit dem Erdbeereis ist auch das Rosa ihrer Träumerei. Spürt sie etwa, dass sie von einem hüpfenden Ungeheuer verfolgt wird?
Nichts spürt sie. Ihre Ungeheuer hüpfen schon lange nicht mehr. Besoffen und arthritisch wackeln sie über den Teppich. Die Lehrerin geht noch etwas aufrechter als zuvor. Wo ist der Eisverkäufer? Warum quatscht er sie nicht an? Spürt sie denn nicht den Geist in ihrem Rücken?
Nichts spürt sie, als sie ins Philosophenviertel abbiegt. Lange, denkt sie, werden die Eltern nicht mehr leben. Warum geht sie heute quer über die Straße? Bestimmt wird ihr Vater noch dieses Jahr…

Hier schnappt der Geist zu.


XII.

Täglich beinahe trafen sie sich, “um Schulaufgaben zu machen”, in ihrer geheimen Grotte.
“Heute nachmittag”, belog Knütchen seine liebe Mama, “gehe ich wieder zu Susanne.”
“Die hast Du wohl noch mehr lieb als Deine Mama!”
“Ich muss ihr doch helfen. Die bleibt ja sonst sitzen.”
Von wem hatte ihr Junge das gute Herz? Von seinem Vater nicht.
“Ich gehe zu Knütchen.”, belog Susanne ihren lieben Papi. Treu glaubte der seinem Töchterchen und so glaubte sie’s auch. Hätten die Kinder denn ihre Hausarbeiten nicht prima beim flackernden Kerzenschein der Höhle machen können? Erblühen uns bunte Lügen nur, um in der Wirklichkeit zu verwelken?
Immerhin. Planlos spielten sie nie. Noch ihre albernsten Ideen verschlang die knutische Manie und stilisierte sie zur Besessenheit. Seine ungegessene Schokomotive, hart wie Stein inzwischen, hielt er dicht vor die Kerzenflamme und furchterregende Schatten warf sie. Dass eine wirkliche Lok nun direkt durch ihren Tunnel donnerte, wer wagte das noch zu bezweifeln? Besonders da seine Fahrradhupe dazu den grauenvollen Effekt untermalte. Einmal mischte sich sogar das Sirenengeheul eines Peterwagens dazwischen, aber dort unten spürten sie nur schwache Erschütterungen, als er über den Bahnübergang sauste.
Lange spielten sie an jenem Nachmittag. Kurz vor dem Abendbrot ging er auf den Schienensträngen nach Hause und kaum hatte er geklingelt, da stürzte die Mutter auf ihn zu. Hinter ihr der Vater.
‘Wer hat uns verraten?’, dachte Knut bestürzt. Heulend umarmte ihn die Mutter als wäre der verlorene Sohn aus dem Krieg heimgekehrt.
“Ach…, Knut, ach Knut…”. Hier wurde die Mama von einem Weinkrampf unterbrochen.
“Fräulein Gotthart…”, sagte der Papa.
“Deine liebe Lehrerin…”, sagte die Mama und erneut wurde sie von einem noch heftigeren Weinkrampf geschüttelt. Der Knut tat ihr so leid.
“Fräulein Gotthart…”, sagte der Papa.
“Frau Gotthart ist im Himmel.”, flüsterte die Mama und schaute ihrem Knut in die Augen.
Dies klang aber sehr unglaubwürdig. Während sie im Inneren der Erde waren, flog Frau Gotthart heimlich zum Himmel?
“Ein Volkswagen…”, sagte der Papa.
Noch unsinniger klang das. Wie konnte die Lehrerin mit einem Volkswagen in den Himmel fahren? Sie hatte ja nicht einmal den Führerschein, wie sie selbst es stolz zugegeben hatte.
“…hat sie erfasst.”, sagte der Papa. Auch er hatte nun Tränen in den Augen und so hatte ihn Knut nur einmal in seinem Leben gesehen. Als die Oma starb, dunkel und mysteriös war seine Erinnerung, weinte der Papa wie ein kleines Kind.
“Wo ist Frau Gotthart?”, fragte Knut.
“Eure arme Lehrerin ist im Himmel.”, schluchzte die Mama und umarmte ihren lieben Jungen.
“Es ist direkt auf dem Weghäuserweg passiert.”, sagte der Vater und hatte sich gefasst. “Sie wurde von einem vorbeifahrenden Volkswagen erwischt, als sie über die Straße ging.”
“Das muss gleich da bei diesem Luigi passiert sein.” Auch seine Mutter hatte sich gefasst.
“Luigi ist weg.”, sagte Knut lakonisch. War der vielleicht mit Frau Gotthart entflohen?
“Der Fahrer ist im Schock.”, sagte Papa Lampe.
“Der war wohl betrunken.”
“Glaub ich nicht. Der war wohl schon älter. Er hat sie zu spät gesehen. Die werden die Bremsspuren untersuchen.”
“Das ist auch dunkel da. Die sollten man lieber mit Scheinwerfern fahren.”
“Die könn’ doch nicht am Tag mit…”
“Ist Frau Gotthart tot?”, unterbrach Knut. Dass seine Eltern in himmlischen Metaphern schluchzten war ihm unangenehm. Jetzt wollte er Gewissheit.
Die Mama nickte nur und weinte schon wieder. Aber Frau Gotthart war doch gar nicht ihre Lehrerin. Unwillig und steif stemmte er sich gegen die mütterlichen Umarmungen. Dann ging er auf sein Zimmer.
Noch am Abend bereits trafen sich Eltern und Kinder in der Bölker-Schule. Der Hausmeister, das Kollegium, die Rektorin - alle weinten sie. Und die Kinder? Verlegen blickten die an den Erwachsenen vorbei. Ein paar Mädchen, auch Susanne, schluchzten. Andere tuschelten. Knut hoffte, dass Frau Gotthart eintreten und die Erwachsenen hinauswerfen möge. Selbst das trockenste Diktat war doch angenehmer als diese Heulerei.
Die Beerdigungsfeier dann, in der Trinitatis Kirche, imponierte ihm. Besonders als ihn die Orgel wie eine dröhnende Lokomotive mit mächtigen Bässen erbeben ließ. Und nun, endlich, weinte auch er ein wenig.


XIII.

“Patzner”, wisperte es durch die Korridore der Bölker-Schule. “Patzner, Patzner”, säuselten auf dem Weghäuserweg die Eichenblätter im Winde und die Kinder erschauerten. “Ihr kriegt Patzner.”, sagte Herr Lampe. “Tja. Was man kriegt im Leben, muss man nehmen.”
“Was man nimmt,” sagte Knut, “kann man kriegen.” Aber wer hätte je freiwillig Herrn Roland Patzner, einen Lehrer der Strenge, genommen? Wer hätte freiwillig die liebe Frau Gotthart gegen einen Patzner getauscht?
Wie strikt war der Herr Patzner? Eine strenge Prüfung - doch keiner machte sie - hätte eigentlich die fehlende Strenge des vermeintlichen Tyrannen bewiesen. Weder zu schwierige Fragen stellte er, noch verlangte er einen Berg der Hausaufgaben und milde zensierte er. Die Schärfe, nicht Strenge, war des Patzners Leidenschaft. Ins Herz traf er den Schüler mit einem boshaften Sarkasmus und, getroffen, wähnte sich der naive ein Opfer der Strenge. Bei einer geleierten Antwort zückte Patzner einen Groschen, aus dem Ärmel gezaubert quasi, vor den Augen des verdutzten Leiermanns: “Wo ist denn hier der Einwurfschlitz vom Kaugummi-automat? Kann man das nochmal ausspucken? Wir würden es gern ein zweitesmal hören.”
Nie hätte Patzner einen lärmenden Lümmel hinausgeworfen oder beschimpft. Mit ausgesuchter Höflichkeit bat er zum Beispiel: “Prima, Kai-Uwe, wie Du so geräuschvoll bist! Jetzt geh bitte mal hinunter auf den Schulhof und schrei fünfmal so laut wie möglich. Wir würden nämlich gern wissen, ob mans hier oben im Klassenzimmer noch hören kann.” Durchaus freundlich klang der gelächelte Vorschlag. Was blieb dem armen Verspotteten übrig, als eine möglichst unbekümmerte Miene zum argen Patzner Spiel zu machen? Kam er dann, recht kleinlaut, zurück, so versicherte man dem Jungen, dass er zu bescheiden geschrien und man fast gar nichts vernommen hätte. Wohl oder übel musste er sich da noch ein zweitesmal hinaustrollen; prompt auch applaudierte man vom Fenster aus seinem halbherzigen Gebrüll und, dass sich Kai-Uwe später zu einem stillen, komplexen Gymnasiast verwickelte, wen wundert es nun noch.
‘Antiunterricht’ war eine weitere patznerische Spezialität. Unterlief dem flüchtig Sprechenden eine grammatische Ungenauigkeit, so kritisierte sie der gewandte Pädagoge keineswegs. Eher spornte er den verunsicherten Schüler zu weiteren Fehlern an, und war der Satz dann endlich bis zur Unkenntlichkeit verhunzt, so kicherte Patzner fröhlich in sich hinein.
Stets übrigens, obwohl doch eigentlich verhasst, zog der Spötter die Kicherer auf seine Seite. Hätten sich die Schüler nur einmal solidarisch des Kicherns enthalten! Aber der bösen Ironie des Lehrers waren sie nicht gewachsen. Charakteristische Merkmale, die Kinder gern zu verulken lieben, verbarg Patzner hinter dem Spott. Und Spott - man wird es sofort zugeben - lässt sich nicht verspotten.
Blieb nur der Name. “Nomen est omen”, heißt es, und wunderbar ominös klang “Patzner” durchaus. “Darf ich die Qualle ein Wirbeltier nennen, Knut?”, fragte er einst rhetorisch.
“Das wäre ein kleiner Patzer.”, antwortete der boshafte Knilch. Generös kicherte sogar Herr Patzner, murmelte etwas von “Knute geben” , aber seinen Spitznamen hatte er weg und rhetorische Fragen vermied er. Auch den Knut frug er nun selten, der kleine Patzer, doch geduldig wartete er auf die Gelegenheit der Gunst.
Und lange brauchte er nicht zu warten. “Mein Schulweg” hieß das Thema des Aufsatzes. “Ich lese Euch mal vor”, kicherte der kleine Patzer, “was Knut geschrieben hat: ‘Auf dem Weghäuserweg sind viele Häuser weg und deswegen nenne ich ihn Häuserwegweg.’ Du bist ein genialer Wortverdreher, Knut! Aber warum verdrehst Du nur die Sprache? Du solltest auch rückwärts schreiten, …Deinen Schulweg zum Beispiel; und mit der rechten Hand schreiben? Ist ja langweilig.” Nun musste der eitle Knabe rückwärts zur Tafel gehen, um dort “Häuserwegweg” mit links hinzuschmieren.
“Bravo, Knut, nur weiter so!”, kicherte der kleine Patzer und mit ihm kicherten die Kinder.


XIV.

“tunK” nannte er sich von nun an. Rückwärts zwar ging er nicht auf der Straße aber, sich zu verdrehen, das hatte tunK beschlossen. Manisch analysierte er auch noch die winzigste seiner Gesten und verbog sie radikal. Dass er die Uhr rechts trug, sich mit links kämmte, seine Mama “Papa” nannte - und nur wenig amüsierte die sich darüber - , Hemden von unten nach oben zuknöpfte, waren nur seine gröbsten Umkehrungen. Seine Sprache verdrehte und fal Schésil ben Béton t­ëder ben Gel. In Gesellschaft vermied er allzu Auffälliges. Als Solist jedoch spielte er seine Inversionen recht besessen. Hatte er zuvor auf dem Schulweg unebene Pflastersteine tabuisiert und strikt gemieden, so betrat er sie jetzt mit Absicht. Oft sogar, wo es ihm möglich war, vertauschte er den Bürgersteig. Hatte er sich einst den rechten Zeigefinger zum Lieblingsnasebohrfinger erkoren, wählte er nun den kleinen Finger der Linken.
Unbedingte Voraussetzung war grundsätzlich die exakte Selbstbeobachtung. Im Voraus durchschaute tunK seine Impulse, unterdrückte sie sofort nur, um die Gesten dann bewusst umzukehren. Auf diese absonderliche Weise erkundete er sein Unbewusstes, und eine nervöse Bewegung, die er erkennend korrigiert, lernte er allmählich auch bei anderen wahrzunehmen. Ja, weit mehr noch. Es entging ihm nicht das possierliche Spiel dieser Gesten im Klassenzimmer, dass selbst der winzigsten Bewegung unmittelbar ein Echo folgte. Kratzte er sich am Ohr, so konnte er fast sicher sein, sofort einen infizierten Nachbarn beim Ohrenkratzen zu erwischen. Sogar der kleine Patzer unterlag diesen Suggestionen und nicht selten gelang es dem tunK, seine Marionette dem Zwang einer nervösen Geste zu unterwerfen.
Mit allerlei Ticks experimentierte der Magier, mit unauffälligem Gähnen, Kopf auf die Hand Stützen oder zur Seite Drehen, dem Stirn oder Haare aus dem Gesicht Streichen, und fast immer pflanzte sich so ein kleiner Virus, anmutig oft in graziler Wellenbewegung, fort. Auch Gegenströmungen kompensierten, schienen die Balance im Zimmer wieder auszugleichen. War eine Kopf-nach-links Woge über die Klasse gerollt, so schaukelte bald darauf eine Kopf-nach-rechts Welle zurück, bevor sich die unruhigen Phasen ausgependelt hatten.
Fast noch seltsamer als dieser unterschwellige Rhythmus waren die Blickaustausche. Gar nicht zufällig erschienen sie dem tunK. Wenn Patzner, was ihm manchmal passierte, zu stottern begann, wandten die Kinder verunsichert den Blick vom Lehrer ab und, neue Identität suchend, einander zu. Das hierarchische Gefüge wurde in periodischen Abständen erschüttert, zerfiel, und sofort zogen sich die Fragmente zu neuen Gebilden zusammen die, fragile Organismen, freilich nur wenige Sekunden überlebten. Im Verborgenen also atmete ein rätselhaftes Leben unter dem vertraut sterilen Aggregate.
Hier nun fand der geniale Saboteur die Gelegenheit, seine Waffen zu verfeinern. Geduldig Momente verminderter Aufmerksamkeit suchend, schwächte er das Fluidum noch durch unterschwellige Gesten, bis sich die Verunsicherung auf den armen kleinen Patzer übertrug. Jetzt schlug er zu. Durch gezielte Blicke fing er sich die suchenden Augen der Kinder und, abgeschnitten, fand sich der Patzner urplötzlich allein.
Wähnte der Heimtückische jedoch den Feind durch seine Manöver geschwächt, so täuschte er sich vielleicht. Gefährlicher werden ließ den Patzner seine Unsicherheit, die er nun mit verdoppeltem Spott wettmachte.

Weise bewahrte der große tunK sein Geheimnis. Nicht einmal der Susanne verriet er es. “Was machst Du da?”, fragte sie den Freund, wenn sie ihn bei einer linkischen Geste erwischte, doch der verriet nix.
Verändert auch hatten sich im Tunnel ihre Schattenspiele. Die Rolle der Frau Gotthart durfte nun die Susanne spielen, während Knut den Roland Patzner übernahm. Eine ihrer schrulligsten aber vielleicht gar nicht so harmlosen Ideen war die Dramatisierung des Todes, später dann der Wiederauferstehung, ihrer ehemaligen Klassenlehrerin. Patzner, ganz unschuldig in der langweiligen Wirklichkeit, verschmolz mit Luigi und Saurier zu einem hinterlistigen Schurken, der die arme Gotthart manchmal fraß, meist jedoch mit Giftbeereneis kaltmachte, um sie endlich auf die Straßenmitte zu schubsen, wo sie zunächst recht bieder von Autos und LKWs, allmählich dann immer abenteuerlicher von Panzern, Lokomotiven und Donnerechsen überrollt wurde. Nur wenige Sekunden verharrte sie im Tode. Sofort erschien ihr Geist als Engel der Rache; und wer mochte jetzt wohl in der Haut des Bösewichts stecken? Kurzer Prozess wurde mit dem gemacht. Luigi Patzner wimmerte, beteuerte stotternd seine Unschuld, versprach, bis in alle Ewigkeiten kostenlos Erdbeereis mit Sahne zu spendieren. Aber gar nichts nützte das ihm. Verdammt wurde er dazu, als Saurierköder am Eichenast zu baumeln. Die heilige St. Gotthart flog zur Bölker-Schule und rettete die Kinder, die der bitterböse Patzner dort im Folterverliese hatte schmachten lassen.
Am wirkungsvollsten gelang das Drama, wenn der Lokomotivendonner, der echte, den Tod der Heiligen oder auch die Verdammung des Bösen untermalte.


XV.

Rosemarie Patzner sorgte sich um ihr Rohchen, so nannte sie den lieben Roland. Fahrig stolperte er im Flur, vergaß - ach, wie wurmte es die Gemahlin - sein liebes Röschen zu verspotten und in unruhigem Schlummer zerschnarchte der Gatte ihren Frohsinn.
Mancherlei wirre Träume erlitt er. Auf der Suche nach Wirbeltieren wandelten sie im Naturhistorischen Museum, er und seine Schüler. Dort hing, wie stets, das falsche Gerippe eines Ichthyosauriers unter der Decke. Erläutern wollte er den Kindern die Gebeine, aber die tuschelten untereinander und kein Interesse konnte er erheischen. Da verwandelten sich die Knochen, und das riesige Skelett eines Tyrannosauriers ragte in der Mitte des weitläufigen Saales vor ihnen auf. Nun träumte er im Konjunktiv. Gesetzt den Fall, dachte er, dass ich es erklettere. Er ruderte mit den Armen und schon schwebte er auf das tyrannische Rückgrat, dessen Wirbel er wie Stufen wundersam und schwerelos emporstieg. Nun hörte er die Schreie der Kinder. “Schaut mal, Herr Patzner klettert auf den Rex!”, rief ein Mädchen und alle zeigten auf ihn.
Was würde passieren, dachte er im Konjunktiv, wenn ich nun in den Kopf kletterte? Kaum hatte ers gedacht, so war er es selbst bereits, schaurigstes Monster, das auf die Kinder hinabstarrte die, in zuckende Ratten verwandelt, auseinanderstoben. Um sich an ihrer Angst zu weiden, wollte er eine kleine Ratte schnappen und jagte sie durch die dunklen Korridore des Museums. Da verschwand sie in einem Dioramen und er sah nun eine garstige Fledermaus, die ihre Ultraschallstrahlen auf ein Insekt geworfen hatte. Widerlich bleckte sie ihre spitzigen Zähnchen und in diesem Moment erhielt er einen Rippenstoß vom Röschen, dem das Crescendo seiner Schnarcher lästig geworden.
Ordentlich verjagte sie sich, als er ihr, dem Schnarch entrissen, sein stinkendes Gesicht zeigte. Gleich würde es zubeißen.
“Ich mach uns einen duftenden Kaffee, mein Rohchen.”
“Ratte”, murmelte der Gatte. Jählings entsprang er dem Bett, setzte sich recht böse aufs Klo, wo er sich ruckartig rasierte und, um die Bohnen zu mahlen, wackelte das Röschen in die Küche. Doch selbst der Kaffee, sein geliebtes Elixier sonst, verscheuchte nicht die Stinkelaune. Ohne überhaupt die Zeitung gelesen zu haben, schnappte er sich die Aktentasche und floh das Heim, den Röschen- und Kaffeeduft.

Merkwürdig war es, wie die undefinierbare Person Patzners in Momenten der Unsicherheit an Eigenschaft gewann. Auch in ihr also schlummerte unterschwellig ein verborgenes Wesen. Verhuschte, ja echsenartige Bewegungen machte der stotternde Kopf dieser Figur, der ruckartig plötzlich verharrte und reglos starrten seine scheinbar wimpernlosen Augen auf den Schüler, ohne ihn wahrzunehmen. Dem verlorenen Faden mochten sie hinterhersuchen und rasch erkannte Knut eine erhöhte Suggerierbereitschaft im Vakuum solcher Momente. Mit einem magisch dahingemurmelten Wörtchen, einem Würmchen also, ließ sich der Lehrer angeln.
“Und am Dienstag, nein - quatsch! Am Mittwo…, wo…”; hier verstrauchelte er sich in den Wochentagen und stolperte in seine Stotterei: “…am Do, Donners…”. Starr haftete sein Blick auf Knut, und “Ausflug” raunte der tonlos. “Am Donnerstag machen wir eine Exkursion ins Naturhistorische Museum.”, sagte Patzner, der eigentlich eine Rechenarbeit hatte ankündigen wollen. Die Kinder jubelten.


XVI.

Wie einen Regenwurm zerschnitten die Schienenstränge den Weghäuserweg. Weg übrigens waren die Häuser nur in seinem morastigen Abschnitt, während im eleganteren das alte Fachwerk durchs Sommerlaub hindurchschimmerte. Manchmal, wenn schwere Güterzüge mitten auf dem Bahnübergang zum Stehen kamen, schieden sich die beiden Teile des Regenwurms und fühlten sich als eigenständige Individuen. Nur dem Lokführer wäre von seinem Führerstand aus wohl der gleichzeitige Einblick in beide Straßenhälften gestattet gewesen, doch stets stur nach vorn starrte der.
Was er sich wohl gedacht hätte, der Lokführer, wenn er direkt unter ihm die szenische Aufführung der hehren Tragödie hätte miterleben können? Hätte er beobachten dürfen, wie der stotternde Patzner blitz- und echsenartig das selige Fräulein Gotthart unter seine Lok stieß, so hätte er…; doch wahrscheinlich hätte der Kerl nur gedacht, dass ein paar freche Kinder im Tunnel spielten - dort, wo sie durchaus nicht hingehörten.
Nicht nur zwei Kinder spielten da übrigens. Auf der Suche nach Publikum hatten sich die beiden Schattenschauspieler Freunde in ihre geheime Donnerhöhle geladen. Ursu- und Gisela, die Zwillinge, waren es, und Publikum blieben sie natürlich nicht lange. Stets als entzweites Paar agierten die “la-la” Schwestern. Begonnen hatte es bereits im Mutterleibe wo sie sich, lange um das Ei streitend, endlich damit begnügten, als Zwillinge auf die Welt zu kommen. Dies behauptete jedenfalls die Mutter, die es gefühlt haben wollte.
Da die Gisela nun starken und sentimentalen Anteil am Schicksal der seligen Gotthart nahm, bittere Tränen weinend den Heldentod ihrer lieben Lehrerin verhindern wollte, sah sich Ursula gezwungen, dem Luigi Patzner mit guten Ratschlägen Schützenhilfe zu gewähren. Tollkirschen empfahl sie ihm, oder auch Knollenblätterpilze, seinem Sahneeis unterzumischen, und die bewusstlose Gotthart noch etwas weiter auf die Straße zu schubsen, wo sie wohl auch vom Gegenverkehr noch erfasst werden konnte.
“Achtung!”, schrie Gisela. “Das Eis ist vergiftet!” Und mit ihrem Handschatten versuchte sie, den Schatten des verruchten Eisverkäufers zu verdecken. Zuhause übrigens, über ihrem Bett, hatte Gisela, aus einem Klassenfoto vergrößert, das gerahmte Bild der Silke Gotthart hängen und jetzt wurde es feierlich in den Tunnel überführt. Ursula hingegen brachte eine kleine Strohpuppe, und diese Vogelscheuche war der Patzner.
Zu hart waren die Steinblöcke des Tunnels, als dass sie Nägel hineinzuhämmern vermocht hätten, und so lehnten sie einen dreibeinigen Wackeltisch gegen die Wand, bekleideten ihn mit einem Teppich. Hier nun, auf diesem Altar, thronte das Bildnis der Wiederauferstandenen zwischen zwei Kerzen und vor die Ikone, als Opfergabe, legte man Patzner, den Popanz, nieder. Ursula erhob keinen Einwand. Nur im Spiel half sie dem Bösen. Festgesetzt war das Ende der Tragödie und, vorherbestimmt, ließ es sich nicht beeinflussen.


XVII.

Der Do…, Do…, Donnerstag war angebrochen. Aus nervösem Schlaf erwachend fand Patzner sich allein in seiner Wohnung und einen Zettel auf dem Esstisch. Rosemarie war zu ihren Eltern aufs Land gefahren. “Den Kaffee findest Du oben links im Wandschrank.” Unter “Wandschrank” blühte ein niedliches Röschen. Wütend zerriss der Rohling die kunstvolle Zeichnung und setzte sich, ohne zum Wandschrank zu gehen, an den Tisch. Vom Vorabend stand noch lauwarmes Bier. Hastig, auf den Duft seines frischen Morgenkaffees verzichtend, schluckte er es hinunter.
Unrasiert hatten sie ihn nie gesehen, aber sie planten ja einen Ausflug heute; so mochte es angehen. Wie er dann aber vornübergebeugt, wortkarg vor ihnen einherstolperte, fühlten sich die Kinder von einer Beklommenheit ergriffen, die auch der Staub- und Bohnerwachsgeruch des Museums nicht ersticken konnte. Unter dem Skelett des Ichthyosauriers - sie alle kannten es bereits - begann Patzner zu stottern. Von seinem Traum übrigens fehlte ihm, trotz bangen Nachgeschmackes, die Erinnerung. Nur auf Knuts Mund starrte er, der leise “Eis” murmelte.
“Wir gehen zuerst in die Cafeteria.”, murmelte Patzner. “Ihr könnt Euch ein Eis kaufen, wenn das Taschengeld reicht.” Er selbst setzte sich abseits, verzichtete aufs Eis und trank Dosenbier. Unruhig tuschelten die Schüler und erfroren war die Freude am Eis. Hätte der Patzner nur endlich eine spöttische Bemerkung gemacht! Doch der ignorierte sie. Abrupt und ohne sich aufzurichten erhob sich der Lehrer. Gebückt schlich er hinaus.
Keiner wagte es zu reden. Nach einer Weile, mit Vorsicht, ging auch Knut hinaus. Wo mochte Patzner hingelaufen sein? Da hörte er das Gurgeln und Fauchen einer Saurierherde. Ob es sich um Triceratopse oder Stegosaurier handelte, glaubte Knut kaum mit Exaktheit bestimmen zu können. Nicht jedoch aus den Dioramen des dunklen Flurs drangen die wilden Laute sondern aus dem Männerklo. Unentschlossen zuerst, öffnete er zögernd die Tür. Saurier sah er nicht sondern die ruckartigen Verkrümmungen eines fast menschlichen Rückens. Herr Patzner war es. Und der erbrach sich ins Pissoir.
Reflexartig zog Knut seinen Kopf zurück. Noch im Flur hörte er das periodische Aufwallen des bestialischen Geräusches und lange verharrte er. Saurier hörte er nicht mehr. Als würde ein Vieh zur Schlachtbank geprügelt, so dünkte es ihm nun.
Da öffnete sich die Toilettentür und in der Dunkelheit des Korridors sah Knut einen Mann auf allen Vieren hinauskrabbeln. Rasch floh er den Spuk und drückte sich in die Schwärze des endlosen Flurs. Die Nischen der beleuchteten Feuerlöscher verloren sich in der Tiefe des Tunnels, verschluckt allmählich vom Gedärm des Museums, und der rötliche Schein der summenden Lampen spiegelte sich im Linoleumboden. Düstere Szenen huschten an ihm vorbei, Wisente im Wald, suhlende Wildsauen, ein Luchs, ausgestorben bereits, der letzte Braunbär vor seiner Felsenhöhle.
Immer schneller lief Knut. Von hinten spürte er etwas heranschlurfen. “Notausgang” leuchtete es dem Wolfsrudel gegenüber, er stemmte sich gegen die Eisentür, hastete die schmuddelige Treppe eines finsteren Stiegenhauses hinauf, öffnete eine Eisentür und stand wieder, ein Stockwerk höher, im Korridor, den er nun in die andere Richtung zurückeilte.
Helleres Licht strahlte ihm vom Ende des Tunnels entgegen und bald fand er sich auf der Empore eines weiten Saales, direkt vor dem hängenden Skelett einer Seekuh. Ein einzelner Museumsbesucher stand, ein Stockwerk unter ihm, auf dem Parkett und glotzte in die Höhe. Da erkannte er Patzner, und gerade in seine Augen starrte er.
Wildes Grausen erfasste den Jungen. Zurück in den Gang flüchtete er, vorbei an riesigen Insekten, bis er auf der anderen Seite über die Treppe ins Erdgeschoss jagte und das Museum durch den Haupteingang verließ.


XVIII.

Noch immer saßen sie seltsam steif, ausgestopfte Spezimen beinahe, in der Cafeteria des Naturhistorischen Museums. Auch Patzner hockte wieder, weiß wie ein Vampir, an seinem Tisch. Doch weder Bier schluckte, noch Spott spuckte sein Mund. Zweimal lugte affenartig ein Gesichtchen durchs Fenster hinein. Bemerkt hatte es nur Susanne und sonst niemand.

Wenig Lust verspürte er, zur Klasse zurückzukehren. Patzner zwar hatte zum Schein fast wieder eine Alltagsgestalt angenommen. Konnte aber nicht unerwartet sein verborgenes Monster hervorzucken? Er selbst, der große tunK, war es gewesen, dessen geheime Magie das grausige Doppelwesen des Lehrers enthüllt hatte. Wie nun ließ sich der Schauergeist in die Flasche zurückzaubern?
Nach Hause durfte er noch nicht und vermeiden musste er die Schule. So ging er über den Ring. Den schnitt die Bahnlinie und neben den Schienen laufend erreichte er bald sein Höhlennest. Lange hockte er auf dem Boden vor dem Bildnis der Heiligen. Wieder spürte er die leisen Erschütterungen eines fernen Zuges. Es flackerten die Flammen der Kerzen, und der zuckende Schatten der Strohpuppe tanzte über die Ikone.
Kurz entschlossen nahm er den Popanz vom Altar, kletterte auf die Schienen, legte die Puppe zwischen die Stränge, floh hinab. Höchste Eisenbahn war es in der Tat, denn sie näherte sich.
Im Tunnel noch hörte er die Warnsignale der Lokpfeife. Dann wartete Knut eine Weile, bis das Ungeheuer abgedampft war. Nun ging er zögernd nach oben. Unversehrt lag die kleine Patznerpuppe dort auf den Schienen. Nicht einmal erbrochen hatte sie sich. Knut nahm den Patzner und legte ihn zurück auf den Altar neben die Schokomotive.

Auch die nächsten zwei Tage schwänzte Knut den Unterricht. Den Samstag, immerhin, betrat er die Schule, doch beinahe musste er sich übergeben, als er vor den Kleiderhaken im Korridor stand. Wieder rannte er, um eine Begegnung mit Patzner zu vermeiden, ins höhere Stockwerk und fast ins Museum fühlte er sich versetzt.
“Hast Du einen Patzner Bammel?”, hänselten ihn die la-la Schwestern nachmittags beim Schattenspiel; und wie wurmte ihn das. Eine echte Räuberpistole musste er da erflunkern, wie er den Patzner im Museumsklo als sauroiden Echsenmann gesehen, ums Haar ein Opfer seiner Blutrunst selbst nur knapp entronnen…; und wir ersparen uns die weitere Ausspinnung dieses knutischen Garnes. Die Mädchen, sogar Susanne, lachten. Ganz geheuer aber war ihnen nicht, hatten sie doch selbst den Patzner mit bleicher Fratze die Cafeteria verlassen sehen.
Mit anderen Augen sahen sie ihn nun und der charakterliche Verfall Patzners, nur zu bald, nährte gräulichsten Verdacht.


XIX.

Geopfert hatte Knut sein Spielzeug. Weggeworfen hatte er nichts. Auf dem Dachboden dämmerten noch die Schlachtopfer des Babytyrannen, Esel, Christkind, dreibeiniges Kamel, gleichgültig alle, still ergeben in ihr Schicksal, und die alte Mäusefalle rostete stumm vor sich hin. Niemals aufgelehnt hatten sich die geschändeten Figuren. Rächende Erynien, falls es sie gab, schlummerten sanft auf dem Dachboden.
Und nun Herr Patzner. Wie mit einer Puppe hatte Knut gespielt. Jetzt war sie kaputt und weigerte sich, auf dem Dachboden zu schlummern. Offensichtlich hatte sich der eitle Junge überschätzt.

Sein Röschen blieb auf dem Lande und sein Schnäpschen tröstete das Rohchen. Getrunken hatte Patzner bereits auf dem Lehrerseminar, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Gespürt hatte das nur sein Röschen. Neuerdings aber schrumpfte sein Witz, spross der Bart, spürten es die Schüler. Streng war er nicht im Bestrafen, eher nachlässig. Wortlos brütete der Verdrossene hinter dem Lehrertisch und leiernd lasen die Kinder. Knut war zurückgekehrt, aber den Blickkontakt mit Patzner mieden seine Augen. Auch Patzners Augen kümmerten sich nicht um ihn.
Nach der Schule jedoch verfolgte ihn sein Wesen; als dustren Autofahrer sah Knut ihn an sich vorbeifahren; dann wieder starrte es aus der Dämmerung eines Hinterhofes. Nur in der Tunnelhöhle unter dem Bahnübergang fühlte sich Knut sicher. Fast unüberwindlich waren die Schienenstränge für den Dämon. Ein eigenartiger Bann hielt ihn in den nördlichen Gebieten und selten nur sah man die Spukgestalt im Reiche der Eisenbahn oder der Kohlenhandlungen. Nur noch des Morgens, um in die Schule zu gehen, riskierte es Knut, die Grenze der beiden Reviere zu überschreiten. Nachmittags beschränkte er sein Spiel auf das Reich der Peripherie.
Und reiche, mysteriöse Schätze sogar, fand er auf seinen Fahrradexkursionen die er, strahlenförmig von seiner Räuberhöhle ausschwärmend, unternahm. Nicht weit von den Gasometern entdeckte er, versteckt zwischen beschmierten Silos und Lagerschuppen, die Überreste eines stillgelegten Güterbahnhofs. Auf toten Gleisen verrotteten Prellböcke, ausrangierte Güterwagen, eine alte Dampflok gar, abgewrackt und vor sich hinrostend. Selbst das Stellwerk und die Ruine des Lokschuppens waren noch nicht abgerissen. Neugierig, durstig beinahe, lugte ein vertrockneter Wasserkran in die Schwärze der Blechtonne, als wenn er aus ihr trinken wollte.
Vergessen war hier nun das bösartige Gespenst seines Lehrers. Kletterte Knut über die Leiter in den Führerstand der Lok, so war er es, der absolute Führer und Lenker, der sein Reich beherrschte. Das schwarze Führerhaus seines Rostsauriers, verrust, öliges Gitterfenster, war das Zentrum der Welt; mit jedem Rädchen, jedem Hebelchen konnte er sie fernsteuern, nach seiner Laune aus den Angeln heben und versenken. Prosaïsche Lokomotivtechnik war ihm hierbei lediglich ein Instrument, denn es reizte ihn, es verführte sein Gemüt die Poesie des Herrschens. Von den fiktiven Steuerungsfunktionen seiner Schaltzentrale erstellte sich der Besessene eine exakte Tabelle und, anstatt eines Fahrplans, klemmte er sie über das Steuerrad. Sein Lokführersitz, auf dem er thronte, war Knotenpunkt der Macht und die Energieblitze zuckten unmittelbar auch in entfernteste Regionen. Schon ein kleiner Ruck am roten Steuerrad zum Beispiel hatte den Absturz eines Starfighters zur Folge, während das Öffnen der Feuertür die Bölker-Schule in die Luft fliegen ließ. Immer abenteuerlichere Wirkungen erfand er für Rädchen, Hebelchen, Kurbeln; nicht nur auf der Heizerseite spielte er mit Druckmessern, Schmierpumpe und Armaturen, nicht nur das dunkle Gedärm des Führerhäuschens und der riesige Kessel, nein, sämtliche Organe der Lokomotive, ihr Schornstein, die Dome, Räder, Achsen, alles wurde dem magischen Ritual einverleibt, bis er schließlich, nachdem er die Puffer untersucht, zwischen die Räder noch kroch, um auch die Unterseite der gewaltigen Maschine zu inspizieren. Rasch allerdings verscheuchte ihn von dort ihr allzu aufdringliches Aroma, diese Geruchssuppe von Rauch, Kohlenstaub und Öl, obwohl dem Forscher die herzhafte Würze im ersten Moment durchaus geschmeckt hatte.


XX.

Viel schlimmer erging es dem Gespenst, dem Patzner. Der rollte nicht unter die Lok sondern mit Kamillentee im Bauch auf dem Fußboden. In die Entzugsanstalt wollte man ihn fast einweisen, aber dann fand sein Arzt zum Glück Abklatschgeschwüre im patznerischen Magen, empfahl die bewährte Rollkur und nun schwappte der Kamillentee in seinem Bäuchlein. Auch das Röschen war mit einem Treueeid und süßem Reuegeschwür im Herzen heimgekehrt, um den Tee zu kochen und das Rohchen zu rollen. Der - scharfer Witz und Schnäpschen waren ihm entzogen - ließ sich alles gefallen und je mutloser der Gemahl desto energischer die Gattin. So hilflos war er nun, der Ärmste, dass sie den Lehrer wie einen Erstklässler auf dem Schulwege noch begleitete.
“Hier kommt der kleine Patzer mit seiner Mama!”, höhnte Knut. Endlich schnupperte der die Chance, sich seiner albernen Gespensterfurcht zu entlachen, und mit ihm lachten die Kinder.
“Aber der hat ja Magengeschwüre, der Patzner.”, sagte Susanne.
“Dann soll er doch einen Magenbitter trinken!” Patzner und Magenbitter reizten die Schleimhäute der knutischen Phantasie und bald hatte seine Schadenfreude possierliche Verschen erdichtet:

Tobt im Magen ein Gewitter,
Trink doch einen Magenbitter.

Und rasch fand sein Sinn für Alliteration eine noch hämischere Variante:

Patzt im Bäuchlein das Gewitter,
Pansch Dir einen Magenbitter.

Schade eigentlich nur, dass das geschwürige Opfer nicht selbst in den poetischen Genuss der galanten Verse gelangen durfte. Ließ sich denn nicht heimlich, wie beim Kohlenhändler oder bei der grässlichen Fensterkrähe, ein Briefchen in den patznerischen Einwurfschlitz werfen? Selbst durfte er natürlich nichts schreiben, da der Patzner wohl seine Schrift, auch wenn er sie verstellte, erkennen würde. Aus einer alten Hör Zu jedoch könnte er leicht Buchstaben, ja ganze Wörter sogar, ausschneiden und zu einem hübschen Kunstwerk zusammenkleben. Das musste er dann nur gut abwischen, vielleicht auch mit Handschuhen in den Briefkasten werfen, damit nicht Detektive gar seine Fingerabdrücke entdeckten.
Gar nicht entdeckte Knut seinen Plan der Susanne. Dass die den boshaften Scherz missbilligen musste, konnte er sich wohl denken. So drückte sich bei Anbruch der Dämmerung unser Held als Solist in die Rübenstraße, denn dort in einer beschmierten Mietskaserne hauste das Ungeheuer. Auf strategische Erfahrungen von früheren Klingeljagden konnte er sich hier verlassen, denn er parkte sein Fahrrad in der Kartoffel-Straße, ein Angriff aus dem Hintergrund also, näherte sich dem patznerischen Hinterhof. Stets, um Fensterkrähen, Heckenschützen zu entgehen, drückte sich der Ninja an der Hauswand entlang. Nun stand er behandschuht, die Mütze ins Gesicht gezogen, vor der Haustür. R. Patzner, dritter Stock. Ohne Zaudern warf er die Bombe in den Schlitz. Sofort ging das Licht an im Hausflur und der Lausebengel, ohne sich umzudrehen, ließ sich von der Dunkelheit verschlucken.

“Darf ich Dich”, sprach Frau Patzner am Kaffeetisch, “zu Deinen begabten Schülern beglückwünschen! Hier - von Goethe…” Zur Aufmunterung des Abgestumpften, hatte sie vorläufig seine Ironie geborgt.
“Magenbitter? Darf ich doch gar nicht. Ist doch Alkohol.”
“Du bist ja bekloppt, Rohchen! Die machen sich doch lustig über Dich.”
“Woher weißt Du, dass das die Schüler sind?”
“Meinst Du, die Nachbarn erfinden sowas? Frau Käsig? Der alte Kurowski? Vielleicht habens ja die Müllmänner gedichtet.”
“…patzt…”, murmelte Patzner, “…patzt, patzt…; dem Dichter ist ein kleiner Patzer unterlaufen.” Boshaft blitzten sein Augen und das Röschen erschauerte.
“Wem…?”, flüsterte sie.
“Knut Lampe! …aber ich kann’s nicht beweisen…”
“Unsinn! Wer ist denn der Lehrer? Knut Lampe?”
“Das wird man sehen.”


XXI.

Metamorphose ist Verwandlung. Der hübsche Schmetterling beginnt zu spinnen und entpuppt sich als müde Larve, als ein Patzner, der nur so trübe dahinwurmt. Aber lasst uns nicht zu früh lachen. Flügel wachsen der Larve und bald wieder blitzt sie, eine Fledermaus, durch das Bohnerwachs.
Wie verwandelt erschien der Patzner nach seinem Magenbitter, den er allerdings nur im Geiste genossen. Erschrocken fuhren die Schüler zusammen und das Tuscheln erstarb ihnen, als der Lehrer forsch, frisch rasiert vor der dunkelgrünen Tafel erglühte.
“Nacherzählung”, lächelte er recht patznerisch. “Hase und Igel. Ein Märchen.”
Nichts Angenehmes schwante dem Knut. Bis ins Mark erschauerte er und aufzublicken wagte er nicht. Harmlos, ja idyllisch, begann das bekannte Märchen; ein Sonntagmorgen im Herbst, es blühte der Buchweizen, der Igel stand vor seiner Tür und trällerte ein Liedchen vor sich hin, so gut und so schlecht, wie es eben ein Igel am lieben Sonntagmorgen konnte. Doch bald schon bemerkte Knut seltsame und entsetzliche Verfremdungen. Nicht “dem Hasen” begegnete der patznerische Igel sondern “dem Meister Lampe”. Auch wetteten die beiden nicht um eine Buddel Schnapps sondern um einen Goldtaler und ein Fläschchen Magenbitter.
Und so lautete das Ende des Märchens: “Noch dreiundsiebzig Mal lief Meister Lampe, und der Igel hielt immer wieder mit. Jedes mal wenn Lampe unten oder oben ankam, sagten der Igel oder seine Frau: "Ich bin schon da!" Beim vierundsiebzigsten Mal aber kam Lampe nicht mehr ans Ziel. Mitten auf dem Acker stürzte er auf den Boden, das Blut floss ihm aus dem Hals, und er blieb tot auf der Stelle liegen. Der Igel aber nahm seinen gewonnenen Goldtaler und das Fläschchen Magenbitter, rief seine Frau aus der Furche zurück, und beide gingen vergnügt miteinander nach Hause. Die Moral der Geschichte aber ist: Keiner, auch wenn er so altklug ist wie der Meister Lampe, soll auf den Gedanken kommen, sich über einen einfachen Mann lustig zu machen, und wäre der auch nur ein Igel.”
“Meister Lampe”, ergänzte Patzner, “ist natürlich der schnellfüßige Hase, ein vornehmer Herr aber im Grunde doch recht feige. Ihr habt zwei Stunden für die Nacherzählung.”
Wie versteinert saß der Meister Lampe nach dem Attentat. Zwar floss ihm das Blut nicht aus dem Hals doch die Scham aus der Stirn und außer seinem Angstschweiß brachte er nichts zu Papier.
“Fällt Dir denn gar nichts ein, Knut?”, fragte Patzner endlich und nahm ihm die Kladde weg. “Schaut mal was unser Klassensprecher geschrieben hat.”
Die Kinder kicherten.
“Was sollen wir da machen? Mag ihm jemand helfen?”
“Er kann ja zuhause weiterschreiben.”, meinte Wolfgang.
“Das ist eine gute Idee, Wolfgang! Wenn Dir hier nichts einfällt, Knut, geh bitte nach Haus und schreib dort. Vielleicht hilft Dir die Mama.”
Wortlos schlich der Knabe hinaus und die Kinder tuschelten.


XXII.

Im Bohnerwachs des Flurs wäre er erstickt, wenn er nicht die Luft angehalten hätte. Auch an der frischen Luft fand Knut keinen Gefallen. Kein Liedchen trällerte er vor sich hin. Kein Buchweizen blühte ihm an diesem Herbstmorgen. Verloren hatten die alten Eichen ihre Blätter, die Saurier waren ausgestorben und durch eine Leichenallee schlich der Junge.
Auch er bemerkte nun, wie Susanne einst, die gichtigen Verrenkungen der Äste. Aber nach ihm selbst streckten sich die öden, hätten ihn auch gefangen, wenn er nicht plötzlich wie ein Hase Haken geschlagen, im Zick-Zack zum Bahnübergang geflohen.
Nur in seiner Höhle war er noch sicher. Er kauerte sich auf den Teppichboden und da fühlte er vom Altare die Gegenwart eines Wesens. Ein Schimmer, ein zartes Rosa, so erschien es ihm, lag auf dem Bildnis des Fräulein Gottharts. Ihren Kopf hielt sie sanft geneigt und Entzücken lächelte ihr Himbeerbonbon in die Höhle. Und bestimmt hätte Knut nun auch geweint, wenn er sich nicht plötzlich an die liebe Stimme seiner Lehrerin erinnert.
“Du bist ein tüchtiger Klassensprecher, Knut.”, sagte Frau Gotthart.
“Patzner sagt, ich bin ein feiger Hase.”
“Herr Patzner ist ein böser Lehrer. Gehe Du ruhig nach Hause und schreibe die Nacherzählung. Ich werde Dir helfen. Aber gib mir auch etwas, Knut.”
“Was möchtest Du?” Knut hätte seine Lehrerin sicher nicht geduzt. Ihren Geist jedoch mochte er nicht siezen und die Stimme Frau Gottharts war nun ein Teil von ihm selbst.
“Gib mir Dein Spielzeug, Knut.”, sagte Frau Gotthart.

“Was, bist Du schon wieder hier?”, fragte Mama Lampe verwundert. “Ist die Schule denn ausgefallen heute?”
“Wir schreiben eine Nacherzählung. Herr Patzner hat gesagt, wir dürfen zu Hause schreiben.”
“Na dann setz Dich mal gleich hin. Worüber schreibt Ihr denn?”
“Über einen Wettlauf. Aber ich gehe dann zur Susanne. Wir schreiben zusammen.”
“Da kannst Du ja nach dem Mittagessen hingehen.” Es schien schon ein merkwürdige Sache zwischen ihrem Knut und der Susanne. So eine Freundschaft war gewiss selten, denn in diesem Alter liebten sich Jungen und Mädchen doch eher wie Hund und Katze.
Vor dem Mittagessen bereits stöberte Knut auf dem Dachboden herum. Wie lange mochte er seine antiken Schätze vergessen haben? Artig Verstaubtes fand er unter dem Weihnachtsplunder, winzige Elefanten, Krippenfiguren, Güterwaggons der Modellbahn und die ließen sich doch leicht transportieren. Als ihn die Mausefalle anstarrte, zögerte er ein wenig. Ob sich Frau Gotthart auch über diese verrostete Apparatur freuen würde? Konnte sich ein Geist die Finger dreckig machen? Endlich bezwang er seine Skrupel und packte auch die kleine Mäuseguillotine ein.

Unter dem Bahnübergang wartete Susanne auf ihn.
“Wieso hast Du gar nichts geschrieben?”, fragte sie.
“Patzner ist ganz fies.”, sagte Knut. “Er sagt, dass ich feige bin.”
“Du?”
“Meister Lampe.”
“Du spinnst ja! Das ist doch der Hase.”
“Nee…, der Hase bin ich.” Und dann erwähnte Knut den Magenbitter. Er habe einen kleinen Brief geschrieben an den Lehrer, der leide ja so unter Magenkrämpfen, und ihm empfohlen, einen Magenbitter zu trinken. Missverstanden habe ihn der Patzner bestimmt und sich nun auf diese fiese Weise gerächt. “Ich habe bereits mit Frau Gotthart gesprochen. Und sie wird mir helfen. Sie wird uns helfen, Patzner zu besiegen.”
Susanne blickte hinauf zu Frau Gotthart und die blickte ihr direkt in die Augen.
“Susanne!”, hörte sie, “Susanne…, Du musst Knut helfen. Herr Patzner ist ein fieser Lehrer.” Leise murmelte Knut die Worte der Göttin, die er in seinem Inneren vernahm aber, wie sich der Mund im Bildnis bewegte…, deutlich konnte Susanne es sehen.
Die beiden Frommen begannen nun damit, die Krippenfiguren und den anderen Plunder auf dem Altar der Göttin anzuordnen. Ein wenig peinlich war es dem Knut schon, doch hatte Frau Gotthart ausdrücklich nach seinem Spielzeug verlangt und so musste er gehorchen.
“Eine Mäusefalle?”, flüsterte Susanne.
“Ja.”, sagte Knut. “Vielleicht gibt es Mäuse hier in der Höhle. Die dürfen nicht die Spielsachen von Frau Gotthart beknabbern.”
“Aber die geht ja gar nicht mehr. Die ist doch ganz verrostet. Ich glaube, Du spielst mit Mäusen.”
“Warum nicht? Wenn ich pfeife kommen sie alle.” Und sofort erblühte ihm aus der Mäusefalle eine Idee für seine Nacherzählung. Harmlos, wie der Patzner, begann er das Märchen. Nicht bei Buxtehude allerdings, sondern in Hameln fand sein Wettrennen statt. Der Meister Lampe benahm sich auch zunächst wie ein rechter Tölpel und ließ sich vom Igelpaar überlisten. Er lief sogar dreihundert Mal, aber er starb nur beinahe. Der Igel und seine Frau, überglücklich, betranken sich an dem Magenbitter und sanken berauscht hinter einen Schlehenbusch. Nun wachte der Meister Lampe wieder auf, zog ein Pfeifchen aus seinem Tornister, den er vor dem Wettlauf abgeschnallt, und hub an, gar lustig zu pfeifen. Nach einer Weile kamen die dreißig Igelkinder angewackelt, folgten dem Hasen und …
Hier schloss der boshafte Knabe und überließ das Happy End der Phantasie des Lesers.
“Unser Herr Igel hat doch gar keine Kinder.”, lachte Susanne.
“…hat er Glück gehabt.”, murmelte Knut. Sie morgen früh bitte dem Igel zu geben, mit diesem Auftrag überreichte der mutige Meister Lampe die Kladde seiner Freundin.
“Wieso gibst Du sie ihm nicht selbst, Meister Lampe?”
“Vielleicht bin ich krank morgen.”
“Darmverschluss?” Aber brav nahm sie ihm die Kladde ab. Da donnerte ein schwerer Güterzug über die Höhle und es erzitterten die Krippenfiguren auf dem Altar. Nur das dreibeinige Kamel fiel um, und die Kinder lehnten es an das Bildnis ihrer Göttin.


XXIII.

Krank wollte der Furchtlose werden. Dennoch träumte es ihm, dass er in die Schule ginge. Zu spät allerdings. Im Schulflur hingen bereits die Anoraks der Kinder und starrten ihn an. Aber die Kinder selbst waren es ja, die dort an den Haken baumelten und ihn fremd anstarrten. Hübsch in eine Reihe hatte man sie gehängt. Auch Susanne hing dort und sie schüttelte mit dem Kopf, als sie Knut sah.
Da ging er nicht ins Klassenzimmer sondern schwebte ins Treppenhaus zurück. Eine Wendeltreppe führte nach oben zum Dachboden. Bald stand er auf dem Dach selbst und lugte durch ein winziges vergittertes Erkerfensterchen direkt in sein Klassenzimmer, das sich in einen hohen Saal verwandelt hatte. Tief unten hockte Patzner am Lehrertisch und vertiefte sich in eine Kladde. Die Kinder, ihre Tische, Stühle sogar, waren verschwunden. Plötzlich blickte Patzner herauf. “Knut!”, hörte er ihn sagen, direkt in sein Ohr, und nur durch Erwachen konnte Knut sich noch retten.
Es war aber seine Mama, die “Knut!” gesagt hatte, um ihn zu wecken. Brav aß der Junge sein Frühstück, küsste seine Mama und ging in die Höhle. Lange saß er dort vor seiner Göttin.
“Wie gefällt Dir das Spielzeug?”, fragte Knut sie endlich.
“Und wo sind die Kinder?”, fragte Frau Gotthart. “Allein mag ich nicht spielen. Bring mir die Kinder, Knut.”
Da versprach er es.

Am Nachmittag kamen Susanne und die “la-la” Zwillinge.
“Du bist ja gar nicht krank!”, sagte Ursula. Sie hatte aus dem Wald Fliegenpilze für den “Patzner” mitgebracht. Knollenblätterpilze hatte sie leider nicht gefunden.
“Ein Fliegenpilz Sahneeis ist doch etwas Wunderbares!”, meinte Ursula.
“Kannst Du überhaupt Eis machen?”, fragte Gisela.
Knut aber schlug vor, einen Zaubertrank aus den Fliegenpilzen zu brauen. Gelesen habe er, dass sich der sibirische Schamane an Fliegenpilzen berausche; die seien nämlich nur, wie der Alkohol, ein berauschendes Gift.
“Traust Du Dich, sowas zu trinken?”, fragte Ursula.
Ein Schluck könne sicher nicht schaden, meinte der furchtlose Schamane. Selbst verkochen möge er den Sud aber leider nicht; das müsse natürlich Susanne machen, die ja daheim oft ihren Vater bekoche.
“Aber wie soll ich das machen?”, fragte Susanne.
“Einfach. Wie Steinpilzsuppe. Tu etwas Schnapps dazu…, von Deinem Vater.”
Gisela hingegen war skeptisch: “Die Arbeit kannst Du Dir sparen. Das wird sowieso keiner trinken. Auch Knut nicht.”
Als Antwort brach Knut etwas von einem Fliegenpilzhut ab, und das stopfte er ohne Umstände in seinen Mund.
“Nein!”, schrie Susanne. “Du bist ja verrückt!”
Nichts jedoch hörte der sibirische Schamane. Besessen, mit wirren Augen, tanzte er aus der Höhle, und dort spuckte er den Leckerbissen rasch in die Büsche. Als er zurückkehrte wandelte er in Trance bereits, sprach er in Zungen.
“Der markiert doch.”, meinte Ursula.
“Pilzvergiftung.”, sagte Susanne. “Was sollen wir machen?”
Besessen starrte der Schamane; kein Lächeln spielte um seine Lippen. Im Schneidersitz hockte er sich vor den Altar und streckte beide Arme nach seiner Göttin aus. In dieser heiligen Pose erstarrte er lange Minuten, und kaum zu atmen getrauten sich die Mädchen.
Und plötzlich hörten sie Frau Gotthart. Zwar war es der Schamane, der redete, aber wie Knuts Stimme klang das nicht. Deutlich strahlte die Stimme vom Altare und rosa schimmerte das Bildnis ihrer Lehrerin. Da hockten auch sie sich neben Knut.
Frau Gotthart aber sprach: “Liebe Kinder. Ihr tut mir so leid. Herr Patzner ist ein böser Lehrer. Ihr müsst jetzt ganz tapfer sein. Aber weint nicht. Kommt zu mir und ich will wieder Eure Lehrerin sein.”
Wieder verharrte der Schamane mit ausgestreckten Armen und auch die Mädchen reckten ihre Arme nach der Göttin. Susanne gar hatte ihre Hände gefaltet.

Auf neun fromme Kinder war die Gemeinde schon am nächsten Nachmittag angewachsen. Widerlich schmeckte Susannes Fliegenpilzschnapps, doch sie alle, bis auf den Schamanen, nahmen brav einen Schluck. Der Magier selbst nämlich saß bereits in tiefer Trance und gestört werden durfte er auf keinen Fall. Übrigens hatte ihm der Schnapps heute beinahe die Arbeit abgenommen. Oder waren es die Fliegenpilze? Gern hätte die Gemeinde sicher ihren Rausch ausgetollt; zu mächtig jedoch die Kristallstarre der gemeinsam ausgestreckten Arme, um sich ihr körperlich widersetzen zu können. Desto lebhafter daher erblühte der Zaubertrank in ihrem Geist. Rosa entstieg die Lehrerin ihrem Bilderrahmen und schwebte, ein Engel, zunächst über dem Altar, endlich gar direkt vor ihnen.
Lange schwieg die Göttin. Gütig und feurig war ihr Blick. Endlich hub sie an zu sprechen: “Liebe Kinder. Ich bin zurückgekommen zu Euch. Bitte weint nicht. Von nun an werde ich Euch nie wieder verlassen.”
Es hatten aber ihre Worte die gegenteilige Wirkung, denn die Gemeinde wurde von einem Tränenstrome überschwemmt, in dem sich die kristalline Vision wohl bald aufgelöst hätte, wenn die hehre Erscheinung ihre Rede nicht also fortgesetzt: “Wunderbar ist es im Himmel. Wollt ihr hier unten bei Patzner bleiben oder mit mir im Himmel spielen?”
“Im Himmel spielen!”, rief die Gemeinde aus einem entzückten Munde und in diesem Moment ratterte ein Schienenbus über ihre Köpfe.


XXIV.

Zum Abendbrot erschien er zu spät. Feurig war der Blick seiner Mama, die aber zu rund und gewichtig wirkte, um als Engel über einem Altar zu schweben. Es hatte Herr Patzner sie angerufen und gefragt, ob Knut die Schule schwänze. Ganz platt sei sie gewesen, wie vom Donner gerührt; dann sei ihr noch blitzartig eine Lüge eingefallen.
‘Kommt der Blitz nicht vor dem Donner?’, dachte Knut, doch weise unterdrückte er seinen wissenschaftlichen Einwand. Ansonsten versagte sein Witz. Nur von der Strenge des Lehrers konnte er etwas murmeln, wie er sich ängstige vor Herrn Patzner, wie der bestimmt seine Nacherzählung kritisieren werde. So habe er sich nicht in den Unterricht getraut, sei bloß draußen herumspaziert.
Versprechen musste er nun der Mama, ja schwören sogar, dass er morgen bestimmt nicht wieder den Unterricht schwänze. So schwörte er es. Er habe aber auch der Susanne versprochen, ihr noch heute abend zu helfen und ein Versprechen, genau wie einen Schwur, dürfe man ja nicht brechen. Gegen ihren Willen musste ihn Frau Lampe gehen lassen. In anderthalb Stunden solle er pünktlich zurück sein.
Er ging aber nicht zur Susanne sondern zu einem Zwiegespäch mit der Göttin in seine Höhle. Da er seine Taschenlampe vergessen hatte, tastete er sich zum Altar und zündete die Kerzen an.
“Patzner hat recht. Ich bin feige. Ich traue mich nicht einmal, ihn zu sehen.”
“Ein jeder ist feige.” sagte Frau Gotthart. “Aber man kann dagegen kämpfen.”
“Wie?”
“Ich will Dich heilen. Aber Du musst mir nun auch Deine Treue beweisen, Knut!”
“Wie?”
“Versprich mir zuerst, dass Du mir gehorchen wirst.”
Er versprach es.
Schrecklich war die Prüfung. Zwischen die Schienen solle er sich legen, jetzt sofort, gerade ebenso wie die Strohpuppe. Er solle genau auf die Uhr schauen und fünf Minuten, auf die Sekunde, regungslos auf den Gleisen liegen. Erst dann dürfe er zu ihr in die Höhle zurückkehren.
Feuer brannte durch seine Adern und, nicht mehr fähig, seine Glieder zu meistern, marschierte er als Automaton aus dem Tunnel, auf den Bahndamm, die Gleise entlang. Dann legte er sich, ohne die Schienenstränge zu berühren, zwischen sie. Seine Nase witterte das Aroma der Schienen, und es glich der Unterseite seines Rostsauriers auf dem still gelegten Güterbahnhof, sein Auge blickte auf den Sekundenzeiger der Uhr, sein Gehör tastete die Ferne nach Signalen ab. Scharf sah er den unendlich trägen Sekundenzeiger im Mondlicht und das heimlichste Rauschen, der leiseste Windzug war ihm ein Zug. Auch sein eigener Herzschlag schien das Stampfen einer Lok, und von oben sah er sich selbst, einen dunklen Körper, auf den Schienen liegend.
Viermal hatte sich der Sekundenzeiger gedreht. Aus der Ferne hallten die Warnsignale einer Lok. Aufspringen wollte Knut doch, gelähmt, konnte er es nicht. Nur die rasenden Hammerschläge seines Herzens fühlte er. Da erschien ihm die Stimme der Göttin.
“Gib mir die Kinder.”
“Susanne auch?”
“Die auch.”
Er versprach es.
“Nun bist Du ein Magier, Knut. Blick auf Deine Uhr.”
Da sah er den Sekundenzeiger auf der Zwölf stehen. Seine Göttin hatte ihm die letzte Minute geschenkt. Als ihn die schwere Lok überdonnerte, hockte er vor dem Altar in seiner Höhle.


XXV.

Als der Magier dann, am nächsten Morgen, das Klassenzimmer betrat, war es Herr Patzner, der den Unterricht schwänzte. Verschlimmert hatten sich dessen Geschwüre, und es vertrat ihn Fräulein Meise. Knut setzte sich erleichtert. Dass er, wenn er aufgerufen würde, seine Schamanen-Würde verlöre, befürchtete der Eitle nun, doch zu seinem Glück schwatzte sich das Fräulein Meise im Solo durch den Unterricht, und Schüler kamen bei ihr nicht zu Wort.
Im Übrigen interessierte sich niemand für Fräulein Meise. Die selige Frau Gotthart war es, die ihre Jünger betörte; und fünfzehn hatte sie inzwischen verführt. Lakonisch, doch stets eindringlich war die Rhetorik der Himmlischen, die ihre formelhaft gedrungenen Sätze im Singsang deklamierte: “Herr Patzner ist ein böser Lehrer. Herr Patzner ist ein sehr böser Lehrer. - Geht nicht zum Patzner. - Bleibt nicht beim Patzner. - Ich bin bei Euch. - Ich werde Euch nie verlassen. - Kommt zu mir in den Himmel. - Folgt mir in den Himmel.”
Einfache Fragen stellte sie, die durch ein schroffes Nein oder ein verzücktes Ja beantwortet wurden: “Wollt Ihr zum Patzner?”
“Nein!”
“Wollt Ihr mir in den Himmel folgen?”
“Jaah!”
Predigt und Fragen als Kernstück der Liturgie wurden von einem reich gegliederten Ritual, einem Gotthart-Dienst, umrahmt. Der Zaubertrank war nun mit dem Saft der roten Beete gefärbt, und der Priester persönlich reichte in einem Weinglase das magische Elixier seiner Gemeinde. Hatten sie sich derart am Blute der Göttin berauscht, so hockten sich die Gläubigen im Schneidersitz hinter ihren Priester auf den Boden, reckten ihr Arme nach der Verehrungswürdigen und stimmten in ein leises Summen ein. Endlich, wenn ihre Körper in Trance vibrierten, begann das Bildnis in Rosa zu schimmern und zart, unmerklich beinahe, entschwebte ihm die wunderbare, ätherische Gestalt der Heiligen. Diese Vision erfüllte nun die Sinne der Verzückten. Verdorrt war ihnen die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die steife Kälte, den Lokomotivendonner über ihren Köpfen, ja, selbst ihren Priester hatten sie vergessen. Wenig nur verkündigte die Erscheinung, und selten sprosste ein Satz in das heilige Schweigen.
Abscheulich hätte das Ende der Zeremonie auf einen nüchternen Betrachter gewirkt, doch nie wurde es von einem solchen je beobachtet. Nach einem Segen der Göttin stieß der Magier plötzlich einen wilden Schrei aus. Die Gemeinde, aus ihrer Trance auffahrend, erwiderte den Schrei, der Tunnel selbst schrie, ein Freudentaumel packte die Gläubigen, deren Wahn sich in einer furiosen Tarantella austobte. Bald fielen sie erschöpft auf den Boden, in einen kurzen, erstarrten Schlummer, und erst beim Erwachen waren ihnen ihre Sinne wiedergegeben.

Ausgelaugt, gähnend saßen sie morgens im Unterricht. Fräulein Meise merkte nichts. Nicht einmal die Namen der Schüler hatte sie gelernt, denn es lohnte sich ja gar nicht. “Freut Euch, Kinder!”, zwitscherte sie ein paar Tage später. “Euer Lehrer ist gesund und kommt morgen schon wieder.”
Als am nächsten Vormittag Herr Roland Patzner, genesen und wohlgemut, vor seine Klasse treten wollte, stand er vor dem Nichts. Nur fünf Schüler waren anwesend. Hatte ihnen Fräulein Meise denn nicht gesagt, dass er heute gesund wiederkehre? Wolfgang und Marion wussten es doch. Wo waren die anderen?
“Vielleicht sind sie in ihre Höhle gegangen.”, sagte Wolfgang.
“Höhle?”
“Die gehen nachmittags oft in eine Art Höhle.”
“Aber jetzt ist es Vormittag! Wer geht? Doch nicht alle…?”
“…die anderen.”
“Und was gibt’s da?”
“Ich glaube die beten zu Frau Gotthart.”
“Frau…, die ist doch gestorben…”
“So eine Art Geist. Aber ich gehe nicht dahin. Ich glaube nicht an Geister.”
“Wo ist denn diese Höhle?”
Wolfgang wusste es nicht. Vielleicht sei sie beim Bahnhof. Er habe die anderen von Loks sprechen gehört.
Eine ‘Höhle beim Bahnhof’ klang unsinnig. Patzner hüllte sich in ein Schweigen, aber heilig war es nicht. “Ihr könnt erstmal nach Hause gehen für heute.”


XXVI.

Entsetzt war das Röschen als sie ihr geknicktes Rohchen erblickte. Bestimmt waren es die Geschwüre wieder. Doch die waren es nicht. Seine Klasse, ungeheuerlich, unbegreiflich schien es, war ihm davongelaufen.
“Da steckt doch der Meister Lampe dahinter!” riet Röschen, die oft patznerische Klassenarbeiten, natürlich auch Nacherzählungen, zensierte. Es gelte nun, sofort die Eltern zu verständigen. Selbst erledigte Frau Patzner dies sogleich und, wenn sie eine Nummer gewählt hatte, rief sie ihren Gemahl ans Telefon.
“I…, ist die Ur…, die Gisela…, sind Ihre Kinder zuhause?”, stotterte der verstörte Pädagoge.
Aber sie waren nicht zuhause. Keines der Kinder, die heute morgen die Schule geschwänzt hatten, war daheim. Denken hätte er sich das können. Von einem Ausflug hatten manche ihren Eltern etwas vorgelogen. Besonders wunderte es Herrn Patzner, dass einige Mütter offensichtlich von der Geschichte gehört hatten, doch hier war ihm die “la-la” Mutter, die Elternsprecherin, bereits zuvorgekommen. Die nämlich hatte in nur wenigen Sekunden zehn Mütter erreicht. Bestürzt wirkten aber nur wenige, denen noch dazu das Schwänzen die größere Sorge bereitete. Sicher sei es wohl ein Missverständnis, da sich Fräulein Meise unklar ausgedrückt habe. Vielleicht haben sie ja wirklich nur einen Ausflug gemacht, und bald seien sie wieder zurück.

Früher als gewöhnlich ging Susanne an diesem Morgen zur Schule. Als sie aber an dem reich verzierten Bölker-Schultor angekommen war, beachtete sie es nicht sondern schlenderte daran vorbei und weiter durch die Eichenallee des Weghäuserwegs. Schlenderte sie? Eigentlich nicht. Eher wie eine fromme Pilgerin wandelte sie, und allmählich wurde sie von weiteren Pilgern begleitet die, andächtig erwartungsvoll, unter den kahlen Bäumen zum Bahndamm zogen. Beseelt waren sie von der bevorstehenden Erscheinung, von der göttlichen Epiphanie.
In der Höhle erwartete sie in asketischer Pose ihr Priester, der regungslos, ohne zu grüßen auf dem Teppich vor dem Altare hockte. Da hockten auch sie sich auf den Erdboden und starrten auf die Ikone. Nach einer unendlichen Meditation erhob sich der Magier, nahm die uralte, steinharte Schokolok vom Altar. Er zerbrach sie mit einem Hammer und reichte die Krümel seiner Gemeinde in einer Schale dar. Zu diesem Mahle kredenzte er das Fliegenpilz Elixier in einem Weinglase. Und wieder eine unendliche Meditation. Länger summten sie. Heftiger und wie Flammen erzitterten sie. Intensiver war ihre Trance, strahlender die Göttin und mystischer ihre Predigt: “Heute erscheine ich das letzte Mal vor Euch in dieser Höhle. - Heute werde ich Euch in den Himmel führen. - Für immer und in alle Ewigkeit wollen wir zusammen glücklich sein.”
Kein Freudentaumel folgte der Predigt. Die Göttin segnete ihre Kinder und versenkte sie in einen tiefen Schlaf.

Als ihre Kinder zum Abendbrot nicht wieder daheim waren, trafen sich zu einer Konferenz sechs Mütter im Haus der Elternsprecherin. Allen übrigens, an diesem Abend, waren die unheilvollen Veränderungen im Benehmen der Kinder aufgefallen, die verzückten Tagträumereien, die tiefe Müdigkeit. Aber was war der Grund? Wo spielten sie?
Die Elternsprecherin erinnerte sich, von einem Tunnel gehört zu haben. Spielzeug haben sie dort hingetragen, die Gisela gar ein großes Foto der Frau Gotthart.
Frau Lampe hatte gar nichts von einem Tunnel gehört. Doch sei der Knut so ein Lok Fanatiker. Sicher spielen sie in dem stillgelegten Güterbahnhof bei den Gasometern, denn dort sei der Knut ja oft gewesen, habe sogar eine alte Lokomotive gefunden und studiert.
Weit war dieser alte Güterbahnhof nicht und die Mütter entschlossen sich, ihn mit ihren Fahrrädern aufzusuchen.

In die Dunkelheit erwachten sie. Doch waren sie erwacht? Noch immer schwebte die ätherische Gestalt der Heiligen in leichtem Rosenduft, in feinem Singen und Klingen, und von überirdischem Glanze war ihr Lächeln. Da fielen sie auf die Knie vor ihr, doch die Göttin hieß sie aufstehen. Unendlich anmutig schwebte die Liebliche zum Tunnel hinaus und auf den Bahndamm. Unendlich anmutig schwebte die Göttin im Mondenscheine über die Geleise und in tiefer Trance, in einer Reihe, Hand in Hand, folgten ihr die Pilger. Ein nüchterner Betrachter hätte in der Dunkelheit vielleicht nur eine Gruppe schlafwandelnder Kinder auf den Schienen gesehen, doch es beobachtete sie niemand.
Aus der Ferne hallten die Warnsignale einer Lok. Alleine nun hockte der Magier in seiner Höhle. Noch immer hielt er die Arme starr ausgestreckt und wie Flammen durchzuckte es seinen Leib. Aus der Ferne hallten die Warnsignale einer Lok.

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